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Podcast-Folge 21 - Wie beeinflusst das neue Coronavirus die Forschung?
5. Mai 2020. Der Lockdown in der Corona-Pandemie hat das Leben für viele Menschen dramatisch verändert: Man bleibt in geschlossenen Räumen, arbeitet allein im Homeoffice, vieles wird langsamer. Nur in der Forschung scheint alles schneller zu gehen: Wissenschaftler*innen veröffentlichen ihre Daten, kaum haben sie sie gewonnen und klinische Studien werden innerhalb von drei Tagen genehmigt statt wie bisher frühestens in drei Monaten. In dieser Folge haben wir Prof. Ulrich Dirnagl, Direktor des BIH QUEST Center, gefragt: Ist diese Beschleunigung gut oder schlecht für die Qualität der Forschung?
Interviewpartner: Professor Ulrich Dirnagl
Direktor des BIH Quest Center und der Klinik für Experimentelle Neurologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Podcast-Folge 21 zum Nachlesen
Herzlich willkommen zum BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health, dem BIH. Wir wollen in diesem Podcast Fragen beantworten rund um das Thema Gesundheit und Gesundheitsforschung. Mein Name ist Stefanie Seltmann.
Heute bin ich zu Gast bei Professor Ulrich Dirnagl, dem Direktor des BIH QUEST Center, das die Qualität und Ethik in der Forschung untersucht und verbessern möchte. Genauer gesagt bin ich natürlich zuhause im Homeoffice und spreche per Telefon mit Professor Dirnagl.
Seltmann: Herr Dirnagl, in den vergangenen Wochen hat der Lockdown infolge der Corona-Pandemie das Leben für viele Menschen dramatisch verändert, man bleibt in geschlossenen Räumen, arbeitet allein im Homeoffice, vieles wird langsamer als bisher. Auch die Forschung hat sich verändert, doch hier hat man den Eindruck, in die entgegengesetzte Richtung, es scheint alles viel schneller zu gehen, man veröffentlicht seine Daten, kaum hat man sie gewonnen, man arbeitet zusammen statt in Konkurrenz, und klinische Studien werden innerhalb von drei Tagen genehmigt statt wie bisher frühestens in drei Monaten. Ist so eine Offenheit und eine Beschleunigung eher gut für die Qualität der Forschung oder eher schlecht?
Dirnagl: Also da ist viel Positives dran, und da sind aber auch große Risiken dabei. Die meisten der Forschungen werden ja jetzt erst mal als Preprints veröffentlicht, das heißt, aufgeschrieben und gleich veröffentlicht, ohne vorherige Kontrolle durch Experten, das, was wir Peer Review nennen. Das ist eine Form von Offenheit und Geschwindigkeit, das ist natürlich beeindruckend. Das gab es schon vor Covid, dieses Format, aber es war noch nicht durchgesetzt und hat noch wenig Beachtung gefunden und hat jetzt sozusagen einen absoluten Durchbruch. Und das gibt natürlich allen Hoffnung, die das schon immer eine gute Idee fanden unter dem Aspekt Transparenz, unter dem Aspekt Geschwindigkeit. Aber gleichzeitig sehen wir jetzt vor unseren Augen, dass das natürlich auch große Probleme erzeugen kann, die letztlich im Wesentlichen zu tun haben mit der Frage der Qualitätskontrolle, weil eben diese Preprints nicht Qualitäts-geprüft sind. Und jetzt kommt eben noch dazu, dass da unter Zeitdruck gearbeitet wird, und jeder will der Erste sein – aus positiven Motiven heraus, wie etwa: Wir wollen etwas beitragen zur Überwindung der Krise. Aber die Sache drängt, weil es eben ein internationaler Notstand ist. Ein bisschen Ego ist sicherlich auch dabei. Aber unter diesem Druck, und das ist die Schattenseite von dem Ganzen, werden wissenschaftliche Standards nicht mehr ganz so ernst genommen.
Seltmann: Sie hatten eben von dem Peer Review gesprochen, der ja in der Wissenschaft ganz wichtig eingestuft wird, weil dort eben die Fachkollegen überprüfen, ob eine eingereichte Arbeit wirklich wissenschaftlich hieb- und stichfest ist, bevor sie veröffentlicht wird. Das ist jetzt völlig ausgehebelt. Ist das eine gute Entwicklung oder sehen Sie das eher mit Sorge?
Dirnagl: Da werden Sie jetzt sehr verschiedene Meinungen hören, wenn Sie verschiedene Leute fragen. Festzuhalten bleibt, dass der Review-Prozess, so wie er vor Covid war, den gibt’s natürlich im Grunde immer noch, als der Goldstandard der Qualitätskontrolle gilt. Und vom Ideal her gesprochen, ist er das natürlich auch. Aber es ist halt einfach ein Ideal, das darin besteht, dass es wirklich die Experten in die Hände bekommen, dass die auch nicht irgendwelche Konkurrenzgedanken haben und vielleicht ihr gegnerisches Labor etwas bremsen wollen, dass sie auch die Zeit haben, sich das ordentlich anzusehen. Aber man kann sagen, dass der Review-Prozess in den letzten Jahren durchaus in die Kritik geraten ist. Ich gebe zu, er funktioniert in vielen Fällen. Ich habe selber häufig profitiert vom Review-Prozess. Papers werden besser. Aber er hat eben auch prinzipielle Mängel. Und jetzt erfahren wir eben sozusagen einen Härtetest, und der zeigt uns das Problem der anderen Seite, also sozusagen dieses völlige Freigeben. Man sollte aber die Kirche im Dorf lassen, weil es zumindest vor Covid, wir wissen nicht, wie sich die Zahlen ändern, es so war, dass etwa 70 Prozent der Arbeiten, die im Preprint zunächst erschienen waren, dann im ganz normalen regulären Peer-Review-Verfahren veröffentlicht wurden, auch in den high-impact Journalen. Das ist natürlich insofern vielleicht ein best of both worlds, also eine Kombination aus beidem. Sie hätten damit erst mal in der Öffentlichkeit, in der wissenschaftlichen insbesondere, eine Diskussion, die dann in dieser Diskussion, wenn sie in den sozialen Medien, wenn sie über E-Mail, wenn sie über Blogs und sonst etwas stattfindet, durchaus zu einer Verbesserung auch der Arbeit führen kann, die dann eingereicht wird. Insofern haben das viele Forscher schon vorher gemacht, auch in der Hoffnung, ihr Paper noch besser zu machen.
Seltmann: Ist es dann vielleicht sogar besser, es als Preprint hochzuladen? Dann diskutieren ja möglicherweise viel mehr Leute darüber als nur die drei, vier Reviewer, die vom Journal eingeladen wurden?
Dirnagl: Exakt. Das ist der Punkt. Das ist ja immer eine zufällige Auswahl. Sie wissen nicht, wer hinter dem Review steckt. Sie haben damit die Möglichkeit, eine viel breitere Meinung zu Ihrer Arbeit zu bekommen. Das ist hochgradig positiv. Jetzt sehen wir aber, dass das auch nur ein Ideal ist. Wenn wir jetzt überschwemmt werden von solchen Arbeiten, dass hier für einen Experten erkennbar sehr, sehr viel nach oben schwappt, was das Potenzial hat, nicht nur einfach so ein bisschen Hintergrundgeräusch zu produzieren, sondern auch ganze Felder in die falsche Richtung zu führen. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist Chloroquin und seine Derivate, also dieses Malariamittel, wo ja auch einige dieser Arbeiten als Preprints rauskamen, mehr anekdotisch als wissenschaftliche Arbeit, die da Wunderwirkungen versprachen. Und das hat letztlich zu einer Priorisierung dieser Art von Forschung geführt, wo in Amerika zur Zeit meines Wissens 17 Studien laufen mit dem Wunsch, 75.000 Patienten zu rekrutieren. Das ist natürlich von allem, was wir wissen, eine unglaubliche Ressourcenverschwendung, bindet Patienten, die in anderen Studien wahrscheinlich besser aufgehoben wären. Und da, glaube ich, kann man jetzt mal ablesen, wo dann auch dieser Druck, diese Eile und das Herunterregeln von Standards hinführt. Wenn man sagt: Also jetzt haben wir keine Zeit für eine randomisierte klinische Studie, jetzt müssen wir erst mal einfach das Medikament geben, und dann brauchen wir keine Kontrollgruppe mehr, sondern wenn es ein paar Patienten besser geht, dann haben wir schon ein tolles Signal, und das machen wir dann auch so. Das ist ein ganz gefährlicher Weg, der an vielen Stellen, glaube ich, derzeit beschritten wird, den man zusammenfassen könnte vielleicht mit dem Spruch: Schlechte Daten sind besser als keine Daten. Aber das ist definitiv falsch.
Seltmann: Es hat sich auch verändert in der Wissenschaft, dass derzeit gar keine Kongresse stattfinden können. Also der Austausch der Wissenschaftler untereinander vor Ort, wo vielleicht dann mal 100 in einem Hörsaal oder 1000 bei den großen Kongressen gemeinsam diskutieren: Was ist denn jetzt eigentlich das Sinnvollste? Fehlt das auch im Moment?
Dirnagl: Das ist eine interessantere Frage.... Also an der Stelle würde ich sagen: Ja, ich könnte mir vorstellen, dass das so ist. Ich würde gerne wieder auf Kongresse gehen. Aber gleichzeitig hat zurzeit ein unglaublicher Schub stattgefunden in Online-Diskussionsformaten. Das sind Dinge, die haben wir vorher schon so ein bisschen benutzt und waren aber häufig nicht so richtig glücklich damit. Aber unter dem Zwang, dass es nur noch das gibt, stellt sich da eine gewisse Etikette ein. Die Leute haben die Programme richtig installiert, jeder hat ein Headset, die Programme sind auch besser geworden. Mein größtes „Meeting“, also das mit den meisten Teilnehmern online, das hatte fast 200 Teilnehmer. Und ich muss sagen, an manchen Stellen bin ich mir nicht sicher, ob das nicht besser war, als wenn alle in einem Hörsaal gesessen hätten. Da läuft im Hintergrund ein Chat, in dem Fragen eingegeben werden. Es kommen viel mehr Leute zu Wort. Es kann aufgezeichnet werden. Also ich will jetzt nicht sagen, dass das unbedingt besser ist, aber ich glaube, wir werden am Schluss, wenn das vorbei ist irgendwann, tatsächlich viele dieser Dinge beibehalten und sie dann wahrscheinlich mit den anderen Formaten kombinieren. Die sind auch viel schneller zu organisieren. Sie sind wahrscheinlich viel besser für den Planeten. Wir verlieren nicht so viel Zeit mit der An- und Abfahrt. Natürlich bei all den Nachteilen, dass wir nicht mit Leuten sitzen, dass wir über Sachen reden, die jetzt nicht auf dem Programm standen, dass sich Kollaborationen sicherlich persönlich besser anbahnen und so. Aber ich bin da eigentlich total optimistisch, dass das ganz heilsam war.
Seltmann: Heilsam sicherlich auch für die Umwelt, wenn die vielen Flugkilometer eingespart werden, die zu diesen Kongressen notwendig sind. Jetzt haben Sie eben gesagt, dass dieser Review-Prozess, der sonst durch die Fachkollegen, erfolgt, jetzt sozusagen öffentlich erfolgt, teilweise auch durch Journalisten, die sich auch diese Preprints anschauen und vielleicht auch schon ihre Meinung, ihren Kommentar dazusetzen. Dennoch muss ja derzeit die Politik handeln und verlässt sich dabei oft auf wissenschaftliche Ergebnisse. Wie sehen Sie denn da vor diesem Hintergrund diese enorme Beschleunigung, die in der Covid-19-Forschung herrscht?
Dirnagl: Das ist natürlich hochproblematisch. Übrigens finde ich jetzt nicht nur für die Politik, sondern überhaupt. Also selbst für die Wissenschaft. Aber es ist ja schon bemerkenswert, dass, wenn man jetzt Deutschland nimmt und viele andere europäische Länder, dass also die Politik hier sehr evidenzbasiert handeln will und sich deshalb auch sehr nahe und sehr viel an die Wissenschaft wendet. Und was vermutlich ein, wie soll ich sagen, ein Sicherheitsmechanismus in diesem Ganzen ist: dass natürlich jetzt nicht Frau Merkel morgens an den Preprint-Server geht und diese Arbeiten heraussucht und dann sagt: Also das hat mich jetzt völlig überzeugt. Obwohl ich ganz nebenbei überzeugt bin davon, dass sie einiges davon ganz gut beurteilen könnte. Aber so geht es ja nicht. Das heißt, die Politik sucht ja relativ breite Beratung von Experten. Und hier sind wir natürlich ganz gut aufgestellt in Deutschland, insbesondere natürlich was Virologie, was auch Epidemiologie betrifft. Was mir ein bisschen fehlt ehrlich gesagt, sind andere Zweige der Wissenschaft, die hier meiner Meinung nach hochgradig relevante Beiträge liefern müssten, wie zum Beispiel die Ökonomen, auch die Sozialwissenschaftler etc. pp. Es muss ja eine Bilanz am Ende aufgehen von den Maßnahmen, die getroffen werden, im Sinne dessen, dass sie besser sind als das, was passieren würde, wenn wir nun gar nichts machen würden und den Virus freilaufen lassen dann.
Seltmann: Sie haben das Fehlen von Ökonomen und von Sozialwissenschaftlern angemahnt. Wenn jetzt die mit ähnlichen Hochrechnungen kämen, dass sie zum Beispiel sagen, also wenn wir jetzt die Wirtschaft runterschrauben, dann gibt es soundso viele Arbeitslose, und Arbeitslose neigen eher zu Krankheiten, und das würde dann hochgerechnet auch wieder zu mehr Todesfällen führen. Oder die Soziologen sagen, die Gewalt in der Familie nimmt zu, die Depressionen, wie auch immer. Dann hätte man sozusagen einen wissenschaftlichen Ausgleich zu der Wissenschaft, die derzeit ja hauptsächlich aus der Virologen-Epidemiologen-Seite kommt.
Dirnagl: Exakt. Das ist genau mein Punkt. Also ich habe bis jetzt erst eine solche Arbeit gesehen, Schweizer Daten wurden da zu einer Modellierung der psychosozialen Auswirkungen des Lockdowns genutzt. Die Resultate dieser Studie sind total schockierend. Ob diese Modellierung stimmt, ich kann das nicht beurteilen, wie auch bei den virologischen Modellierungen, da fehlt mir die Expertise. Aber das sind absolut dramatische Zahlen, die da rauskommen. Außerdem sehen wir gerade, dass eine Übersterblichkeit sichtbar wird, also dass tatsächlich viel mehr Menschen sterben als bei einer normalen Grippe-Epidemie. Das sehen Sie überall, wo diese Statistiken, die ja immer ein bisschen nachhinken, veröffentlicht werden. Dann sieht man, wie das steil nach oben geht und weit mehr als bei einer normalen Grippewelle. Wo es differenziert wird, resultiert diese Übersterblichkeit zu einem substanziellen Teil nicht direkt von COVID, sondern da steht dann: other causes. Andere Ursachen. Aber was sind das für andere Ursachen? Sind das vielleicht die Schlaganfälle und die Herzinfarkte, die jetzt nicht mehr ins Krankenhaus sich getraut haben? Sind das Krebspatienten? Ich fürchte, man kann an SARS-COV-2 sterben, ohne infiziert zu sein.
Seltmann: Das Quest Center hatte vor kurzer Zeit gefordert, dass die Begleitforschung dieser Corona-Pandemie doch möglichst koordiniert ablaufen soll. Das haben Sie gemeinsam mit der Gesellschaft für evidenzbasierte Medizin gefordert. Hat sich denn da schon was entwickelt? Gibt es jetzt schon so eine Art Koordinierungsstelle, die sich darum kümmert, diese Begleitforschung mal anzugehen?
Dirnagl: Meines Wissens nein. Mir ist jetzt nichts bekannt. Auf unseren Aufruf hin hat sich leider nicht viel getan. Ich halte es für einen Fehler, aber man kann es nicht herbeireden.
Seltmann: Was würde Sie denn interessieren? Was würden Sie gerne erforscht haben, wenn man eine solche Begleitforschung in Angriff nähme? Was würde Sie zunächst mal interessieren?
Dirnagl: Ich glaube, zum einen geht es natürlich um Begleitforschung, die damit zu tun hat, dass man schaut, wie sich diese neuen Formate, die jetzt verwendet werden, auf die Qualität der Evidenz auswirken. Wir haben ja über Preprints als Beispiel geredet. Ich glaube, eine solche Begleitforschung wird uns zeigen, wie extrem wichtig Qualität in der Wissenschaft ist. Wie wichtig es zum Beispiel im klinischen Bereich ist, Studien zu präregistrieren, also vorher zu sagen, was man macht und wie man es macht und wie man es auswertet. Um dann nicht im Nachhinein in der Lage zu sein, es anders darzustellen oder gar nichts darüber zu schreiben. Da gibt es ganz viele Dinge, wo wir, glaube ich, jetzt überprüfen können, ob das sich unter so einem Druck schnell hat durchsetzen lassen und ob die Effekte davon gut waren. Das wäre Begleitforschung, die uns am Quest Center natürlich interessiert und die wir natürlich auch machen. Aber Begleitforschung wäre es natürlich auch, jetzt zu gucken, was passiert, wenn man Leute für eine bestimmte Zeit einsperrt, ich nenne es mal so, und die Kindergärten schließt. Was passiert mit den Kindern in ein, zwei Jahren? Wie hat sich das ausgewirkt? All diese Dinge, die jetzt als sekundäre Effekte auftreten. Das zu erforschen wäre hochgradig informativ. Weil uns das ermöglicht Evidenz-basiert zu reagieren wenn so etwas wiederkommt. Momentan sind wir unvorbereitet in vielen Dingen, und wir sind auch unvorbereitet in dem Wissen darüber, was einzelne Maßnahmen bewirken können. Dieses ist jetzt das Testfeld, das wissenschaftlich begleitet auszuprobieren. Das hat es bei SARS ja gegeben. Einiges wissen wir aus der Ebola-Zeit. Es werden jetzt Papers rausgekramt, die die Spanische Grippe von 1918 untersucht haben. Da ist auch einiges zu lernen. Aber in diesem Umfang und in dieser Systematik, auch mit der Möglichkeit, verschiedene Ansätze, quasi Interventionen zu vergleichen, das ist noch nie dagewesen. Wie haben es die Schweden gemacht, wie haben es die Engländer, wie die Deutschen oder die Amerikaner? Bei all den Unterschieden, das muss man sehr vorsichtig betrachten, aber ich glaube, da ist ein Schatz von Evidenz, der sich da heben lässt für das nächste Mal. Da wird man nicht unvorbereitet dastehen und dann sagen: Das wissen wir jetzt auch nicht, ob man die bis zur 9. Klasse oder bis zur 12. Klasse nicht mehr in die Schule lässt. Oder was man mit Kindergärten und mit den Spielplätzen machen muss? All diese Fragen, wenn man das jetzt gut beforscht, werden sich beantworten lassen.
Seltmann: Herr Dirnagl, Offenheit, Transparenz und Zusammenarbeit, haben Sie gesagt, sind ja wirklich gut für die Forschung. Warum findet das dann nur zu Krisenzeiten statt und nicht generell?
Dirnagl: Ich denke, in solchen Krisenzeiten ändern sich die Anreize in den Systemen. Der Anreiz jetzt ist, schnell einen Beitrag zu liefern mit Wissen, das andere verwerten können und uns aus der Krise hilft. Und jeder hofft natürlich, für seinen eigenen Weg als Wissenschaftler dann auch gelobt zu werden und beachtet zu werden und in der gebührenden Zeit dann auch dafür belohnt zu werden.... Im normalen Wissenschaftsbetrieb, muss man sagen, da geht es ganz wesentlich um Konkurrenz. Es geht um Konkurrenz unter Wissenschaftlern. Und des einen Wissen, wenn er es preisgibt, so die Befürchtung, könnte der Vorteil des anderen sein. Ich denke, das ist einer der wesentlichen Gründe, warum Offenheit in der Forschung es sehr, sehr schwer hat. Und weil diese Offenheit ganz einfach nicht belohnt wird. Also wenn wir jetzt rausfinden würden, dass Offenheit der Sache genutzt hat, wir dadurch und besser zu Medikamenten, zu Vakzinen oder was auch immer gekommen sind dadurch, dass sich Kollegen zusammengetan haben, dass sie ihre Daten ausgetauscht haben, dass sie Patientenkollektive gemeinsam untersucht haben. Das klingt jetzt vielleicht sehr idealistisch, aber das könnte noch mal einen Schub geben, darüber nachzudenken, warum braucht es dafür eigentlich eine Krise. Ich würde sogar den Spieß umdrehen und würde sagen: Ist denn nicht Schlaganfall, Herzinfarkt, Alzheimer, die ganzen anderen Erkrankungen, um die wir uns in der Forschung ja sonst auch kümmern, das sind doch auch massive Krisen. Das sind so Dinge, an die haben wir uns irgendwie gewöhnt. Aber wenn Sie nachzählen, wie viele Patienten am Schlaganfall, Herzinfarkt oder an Alzheimer sterben, dann verblasst Covid. Also ja, ich hoffe, dass diese Offenheit sich bewähren wird, dass das auch Leute überzeugt, die bisher skeptisch waren. Aber ich muss auch sagen, ganz einfach ist es nicht. Dazu gehört Wissen und dazu gehören Strukturen, die Offenheit ermöglichen. Und das Wissen darum, wie man das macht, wie man offen ist, also zum Beispiel, wie man Daten gut teilt, sodass andere sie gut nutzen können, und auch die Infrastruktur, da brauchen Wissenschaftler Hilfe. Wissenschaftler wollen forschen und nicht tagelang an irgendwelchen Servern sitzen und Daten annotieren und hochladen. Solche Hilfestellung zu geben, das ist am Quest Center unser täglich Brot. Wir versuchen Strukturen auszuprobieren, mit zu entwickeln, den Wissenschaftlern zur Verfügung zu stellen. Und dabei herauszufinden, wie das ankommt und wie wir weiterhelfen können, und auch wie man solches Verhalten belohnen kann. Deshalb haben wir ja so was wie zum Beispiel einen Open Data Award, wo wir die Offenlegung von Originaldaten von Wissenschaftlern belohnen. Wir haben die Möglichkeit am Quest Center über das BIH, in die Forschung der Charité hinein den Wissenschaftlern elektronische Laborbücher zur Verfügung zu stellen. Das sind Instrumente einer offeneren Wissenschaft, die aber nicht vom Himmel fallen. Man kann nicht einfach den Wissenschaftlern sagen: Seid mal ein bisschen mehr offen, ihr habt ja gemerkt, dass das was nützt.
Seltmann: Sie haben ja auch einen Preis, 1000 Euro gibt es, wenn man sich bereit erklärt, seine negativen Resultate zu veröffentlichen. Da fragt sich ja doch mancher: Was soll das? Wenn man jetzt aber angesichts der Krise sich mal überlegt, dass man natürlich veröffentlichen sollte, wenn man ein Medikament getestet hat und das nicht funktioniert, damit das nicht noch an tausend anderen Orten ausprobiert wird in anderen klinischen Studien, leuchtet das ja sofort ein.
Dirnagl: Ja, es leuchtet ein, aber es ist leider nicht so. Weil, wenn Sie in die Preprints hineingehen der Covid-Literatur, dann stellt sich heraus, dass das Verhältnis von positiven zu negativen Resultaten, wo also das Ergebnis sich nicht so eingestellt hat, wie man es sich es erhofft hat, noch drastischer zu den positiven verschoben ist als wir es jetzt schon kennen. Wenn wir Preprints haben, die dann alle positiv sind und aber uns die negativen fehlen, das ist natürlich hochproblematisch. Die Evidenz der negativen Studien ist ebenfalls sehr wertvoll, sie verhindert z.b. zweimal in dieselbe falsche Richtung zu laufen. Das wäre wieder ein Ziel von Begleitforschung: zu zeigen, was ist da passiert, was hat uns das genutzt und welche der Elemente können wir da in Zukunft dann besser bleiben lassen und welche könnten wir fördern.
Seltmann: Gut, dann bedanke ich mich mal ganz herzlich für das Gespräch.
Dirnagl: Gerne.
Und das war der BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health.“ Professor Ulrich Dirnagl erklärte, wie das neue Coronavirus auch die Forschung verändert. Falls auch Sie eine Frage zur Gesundheit oder zur Gesundheitsforschung haben, schicken Sie sie gerne an podcast@bihealth.de. Tschüss und bis zum nächsten Mal, sagt Stefanie Seltmann.
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