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Interviewpartner: Dr. Samuel Knauß und Dr. Julius Emmerich

Charité – Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie

Podcast-Folge 26 zum Nachlesen

Herzlich willkommen zum BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health, dem BIH. Wir wollen in diesem Podcast Fragen beantworten rund um das Thema Gesundheit und Gesundheitsforschung. Mein Name ist Stefanie Seltmann.

Heute spreche ich mit Dr. Samuel Knauß und Dr. Julius Emmrich, die beide in der Neurologischen Klinik der Charité arbeiten als Assistenzärzte. Nebenbei dürfen Sie etwa die Hälfte ihrer Zeit in der Forschung verbringen, weil sie Teilnehmer des Digital Clinician Scientist Programm des BIH sind, und dabei verfolgen sie ein außergewöhnliches Projekt in Madagaskar. Und weil es sich dabei im weitesten Sinne um ein Projekt der Digitalen Gesundheit handelt, hilft ihnen der Digital Health Accelerator des BIH dabei, das Projekt in die Anwendung zu bringen. Herzlich Willkommen beim BIH Podcast!

Seltmann: Herr Emmrich, Herr Knauß, Sie sind Neurologen oder wollen welche werden, mit welchen Patienten haben Sie in Ihrem Klinischen Alltag zu tun?

Samuel Knauss: Ja, das sind neurologische Patienten natürlich, die großen neurologischen Krankheitsbilder kennt ja wahrscheinlich jeder, Schlaganfälle ist natürlich ganz häufig, häufigste neurologische Erkrankung, dann aber natürlich auch Parkinson, Multiple Sklerose und das Spannende an der Neurologie ist ja: Ganz viele doch im Endeffekt zusammengenommen haben seltene Erkrankungen und das fasziniert, das ist spannend dann zu tüfteln und vor allem den Leuten dann auch zu helfen, wenn man die richtige Diagnose stellt.

Seltmann: Wie kam es denn jetzt dazu, dass Sie ein Projekt in Madagaskar verfolgen, Herr Emmrich?

Julius Emmrich: Ja, also das ist tatsächlich ein gewisser Zufall, der da eine Rolle gespielt hat, und zwar geht das jetzt mittlerweile schon zehn Jahre zurück. Ich hatte während des Studiums, am Ende der Studienzeit immer versucht, viele praktische Zeiten, Famulaturen in Afrika zu verbringen und hab da während einer Station in Kamerun einen madagassischen Kollegen kennengelernt, einen Arzt, einen Chirurgen. Und da hat sich dann eine Bekanntschaft entwickelt und eine Einladung nach Madagaskar. Und als dann Studium fertig war, fuhren wir als kleine Gruppe mit einem kinderchirurgischen Kollegen und einer Anästhesistin hin, haben ein Krankenhaus weit weg im madagassischen Busch besucht, so ungefähr 1500 km weit weg von der Hauptstadt, und haben dort diesen madagassischen Arzt begleitet und waren total beeindruckt, wie mit ganz einfachen Mitteln dort gute Medizin gemacht wird und auch was für ganz andere Herausforderungen dort bestehen im Vergleich zu so unserer Welt. Also hat ein Krankenhaus frisches Wasser, funktioniert die Stromversorgung, sind die einfachsten Medikamente verfügbar? Wie zahlen Patienten für ihre Behandlungen? Und daraus hat sich dann so eine kleine Initiative ergeben, und wir haben Spenden gesammelt, einen Verein gegründet. Dann kamen auch immer mehr Kolleginnen und Kollegen hier von der Charité, also Kollegen, mit denen wir arbeiten und die auch aus anderen Kliniken sind, mit dazu für Einsätze vor Ort und um dort auch Projekte mit zu organisieren und dann jetzt zuletzt seit zwei Jahren, dank der Unterstützung durch das BIH und durch dieses Digital Clinician Scientist Programm, wo Herr Knauss und ich jetzt drin sind, haben wir eine spannende Möglichkeit gehabt, ein digitales Tool zu entwickeln.

Seltmann: Herr Knauss, Sie waren da auch dabei in Madagaskar. Wie empfindet man das, wenn man von so einer Hochleistungsmedizin Neurologie, gerade in einem Topkrankenhaus wie der Charité, in so ein Buschkrankenhaus in Madagaskar kommt? Was empfindet man da? Was sieht man da? Wie fühlt man sich da auch als gut ausgebildeter Neurologe aus der westlichen Welt plötzlich vor Ort? Ist man diesen Herausforderungen überhaupt gewachsen?

Samuel Knauss: Ja, der Grund, warum wir das machen, ist ja, dass wir glauben, das: Translation und Gesundheit hört natürlich nicht am S-Bahn-Ring auf, sondern das geht darüber hinaus, und die Forschung, die wir auch hier machen, ist natürlich genauso dort anwendbar. Und es sind vielleicht andere Rahmenbedingungen, natürlich mit ganz anderen Herausforderungen, aber die Grundsätze der Medizin und die Grundsätze des Arztberufs sind die gleichen, auch die grundsätzlichen Herausforderungen. Also wie die Debatte um Bezahlung von Gesundheitsdienstleistungen – spielt natürlich hier eine Rolle, spielt dort eine Riesenrolle, ist natürlich wieder ein anderer Kontext, hier wird jeder behandelt, der ins Krankenhaus kommt. In Madagaskar muss erst bezahlt werden, bevor man behandelt wird, in vielen, in den allermeisten Fällen. Und das war für uns auch die Motivation, uns genau dieses Themas auch anzunehmen, weil wir gesehen haben, dass, auch wenn man gute Kliniken baut in Madagaskar und Personal schult und hochmotivierte Leute dort sind: Wenn Patienten nicht bezahlen können, dann kommen sie nicht zum Arzt. Und das Gesundheitssystem ist in Madagaskar sehr viel schwächer. im Endeffekt sind nur 10 Prozent der Madagassen krankenversichert und der Rest muss einfach bar zahlen. Wenn man das nicht kann zum Zeitpunkt der Erkrankung, dann fehlt, gibt's keine Behandlung. Und das, denke ich, war die Motivierung, Motivation, dass wir gesagt haben: Lass uns was tun. Und das ist Translation, jetzt eine Lösung zu bauen, die dort zum Einsatz kommen kann und die die Krankenversorgung tatsächlich verbessern kann.

Seltmann: Und dann haben Sie ein Projekt entwickelt, mit dem man die Bezahlmöglichkeiten in Madagaskar für Gesundheitsdienstleistungen ermöglichen kann und erleichtern kann. Wie funktioniert das?

Julius Emmrich: Ja, also das System heißt mTOMADY. Und Tomady ...

Seltmann: Was heißt mTOMADY?

Julius Emmrich: Genau, das heißt auf Madagassisch „gesund und stark“. Und das war ein Vorschlag von unseren Kollegen vor Ort, das Projekt so zu nennen, fanden wir super und seitdem heißt es so. Und also wie Herr Knauss gerade gesagt hat, ist eine Riesenherausforderung, dass die meisten Gesundheitsleistungen out of Pocket bezahlt werden müssen, cash. Und wenn man das nicht sozusagen am Anfang, wenn man das Krankenhaus betritt, auf den Tisch legen kann, kann es sein, dass die Behandlung gar nicht stattfindet oder man wird behandelt und es ist dann aber so, dass im Nachhinein Patienten wie Geiseln bis zu einer Auslösung das Krankenhaus nicht verlassen dürfen, bis nicht die Familie oder jemand bezahlen kann, und zum Teil dann eben, wenn das Krankenhäuser sind, die sehr weit Busch liegen, viele hundert Kilometer anreisen müssen, dort Bargeld transportieren in Plastiktüten, um eben die Behandlungskosten für die Familienmitglieder aufzubringen. Und was in dieser Zeit uns immer wieder so bewusst geworden ist, das ist, wie sehr sich Handys durchsetzen und also mobile Technologien durchsetzen und zum Teil auch viel schneller und viel mehr als das, wie wir es hier kennen. Also beispielsweise Mobile Money, also das Versenden von Geld über eine SIM-Karte, ganz einfach, so wie wenn man eine SMS schickt, ohne dass man dafür ein Bankkonto braucht, und das ist ja weit über Madagaskar hinaus –... in Kenia zum Beispiel: Die Hälfte des Bruttosozialproduktes fließt über Mobile Money. Da haben wir also diese zwei Sachen zusammengenommen, gesagt: Auf der einen Seite gibt es dieses Problem mit diesen Cash Payments. Auf der anderen Seite gibt es diese tolle Möglichkeit, dass praktisch man über ein einfaches Handy oder eine SIM-Karte Zugang zu einer digitalen, sicheren und transparenten Bezahlform haben kann. Und daraus ist mTOMADY entstanden. Und letztlich ist das ein System, was sicherstellt, dass Geld, was auf diese Plattform entweder angespart wird oder von Verwandten geschickt werden kann oder beispielsweise auch von staatlichen Programmen überwiesen werden kann ... das kann nur für Gesundheit ausgegeben werden und ist in dem Zusammenhang sicher. Und alle Einrichtungen, alle Krankenhäuser, die jetzt daran teilnehmen, die können sicher sein, dass, wenn ein Patient behandelt wird, dass die Behandlung auch bezahlt werden kann. Für Patienten besteht die zusätzliche Sicherheit, - dass das durch so ein digitales und transparentes System sehr viel klarer und risikoloser ist für Patienten, ihre Behandlung zu bezahlen, und das ist mTOMADY.

Seltmann: Wie kommt das Geld auf diese Plattform drauf und wie kommt es wieder runter, und wer bezahlt das? Hat jeder Patient sein eigenes kleines Konto oder ist das ein großer Topf, in den alle einzahlen und alle Ärzte rausnehmen?

Samuel Knauss: Also das, was Herr Emmrich gerade beschrieben hat, ist das, womit wir angefangen haben, und das ist das, was wir digitales Gesundheitssparbuch nennen, wo tatsächlich jeder Patient ein eigenes Sparbuch hat. Das Geld, das dort liegt, kann nur für Gesundheit ausgegeben werden, aber dort können natürlich auch Familienmitglieder einzahlen, aber eben auch zum Beispiel eine Stiftung. Wir arbeiten seit Anfang an mit der Else Kröner-Fresenius-Stiftung zusammen, die das Projekt als Erstes unterstützt hat, eben um schwangeren Frauen Zugang zu sicherer Gesundheitsversorgung zu geben. Und da wird jeder Betrag, der von Patientinnen gespart wird, gematched mit einem Betrag, der von der Stiftung kommt. Das war der erste Schritt. Aber uns ist auch klar, dass natürlich, um ein Gesundheitssystem aufzubauen, reicht so ein Sparbuch nicht aus. Sodass wir jetzt daran arbeiten und jetzt mit zwei Versicherungen integrieren, um die digitale Infrastruktur für ein Krankenversicherungssystem zu bauen. Da arbeiten wir mit den beiden größten gemeindenahen Krankenversicherungen in Madagaskar zusammen, die ein großes Problem haben, dass ihre Prozesse fast ausschließlich papier- und stiftbasiert sind. Das ist gerade in einem Land wie Madagaskar mit großen Distanzen und mit schlechten Straßenverhältnissen eine Riesenhürde, um mehr Patienten zu versorgen. Und da hilft natürlich die digitale Infrastruktur enorm. Sodass wir jetzt diese Plattform bauen, wo verschiedene, wir nennen das Payer, das kann eine Versicherung sein, das kann die Familie sein, das kann aber auch ein staatliches Gesundheitssystem sein, einzahlen und wir sicherstellen, dass die ganzen Bezahlvorgängen und die Abrechnungsvorgänge transparent sind.

Seltmann: Kann man da auch drauf spenden?

Samuel Knauss: Ja, da wird man drauf spenden können. Das ist gerade aus dem Digital Health Accelerator heraus eine Ausgründung der Charité und wird eine gemeinnützige GmbH, die dann natürlich auch gerne Spenden empfängt und auch Spendenquittungen ausstellen kann.

Seltmann: Wie weit ist das Projekt? Können schon alle Madagassen darauf zugreifen, alle madagassischen Ärzte?

Julius Emmrich: Noch nicht ganz, also wir haben im zentralen Hochland, da wo die Hauptstadt sich befindet, angefangen und wie Herr Knauss gerade gesagt hat, ist das losgegangen mit einem Projekt, wo schwangere Frauen oder Frauen kurz nach der Geburt Geld für ihre Gesundheitsversorgung sicher zur Seite legen können und von Verwandten oder beispielsweise Unterstützern noch zusätzliche Mittel empfangen können. Und was jetzt als nächster Schritt passiert ist, ist, dass auch Versicherungen im Land auf dieses System aufmerksam geworden sind. Es gibt zwei große gemeindenahe Krankenversicherungen in Madagaskar, die dieses System jetzt nutzen, eine davon, die ist im ganzen Land verfügbar. Die andere, das ist so eine Versicherung, die vor allen Dingen im Norden Vanillebauern, Madagaskar ist ein großer Vanilleexporteur, da gibt es auch Riesenbedarf an guter Gesundheitsversorgung. Diese zwei Versicherungen, die kommen jetzt auf die Plattform und im Allgemeinen waren wir ziemlich überrascht, wie positiv das Feedback ist. Und im Moment ist es so, dass wir eigentlich mehr Interessenten haben, als wir beantworten können. Und das geht auch über Madagaskar hinaus. Also wir haben jetzt als nächsten Schritt eine Möglichkeit, dieses digitale System in andere Länder zu nehmen, und zwar nach Ghana und nach Uganda. Und das sind auch in beiden Fällen Projekte, wo wir mit anderen Partnern zusammenarbeiten, also für Ghana ist das die TU Berlin und das Gesundheitsministerium in Ghana und für das Projekt in Uganda, da gibt's auch eine Universität, die Makerere Universität vor Ort, die Partner ist, und die Klinik für Nephrologie hier an der Charité zusammen, mit der wir so ein Projekt dort machen.

Seltmann: Und wie gut wird das von der Bevölkerung angenommen?

Samuel Knauss: Wir waren, ehrlich gesagt, sehr überrascht, wie gut das angenommen wurde. Wir haben von Anfang an eng mit den Communities zusammenarbeitet, mit den Community Health Workern, die ganz eng eben mit der Bevölkerung zusammenhängen und den Community Leadern, und haben das sehr transparent erklärt, was wir da machen, wo wir herkommen, warum wir das machen und es hat uns wirklich extrem überrascht, wie viel Geld von Anfang an dort gespart wurde und wie hoch das Vertrauen da war.

Julius Emmrich: Und was uns da auch sehr geholfen hat, ist eigentlich auch so ein wissenschaftlicher Ansatz, den wir vom ersten Moment an verfolgt haben. Wir haben viel Neues gelernt und sind auch sehr dankbar, dass wir mit dem Heidelberger Institut für globale Gesundheit zusammenarbeiten konnten und weiterhin arbeiten, und beispielsweise bevor irgendwas los ging in Madagaskar randomisiert Befragungen gemacht haben mit Patienten,... in dem Fall dann eben junge Mütter oder werdende Mütter – mit Vertretern vom Gesundheitsministerium, mit Vertretern von Telefonfirmen, was Herr Knauss gerade gesagt hatte, diese Gemeinschaften oder solche Community Leaders, ein Kreis der Ältesten einer Gemeinde. Das war super wichtig, weil wir so viel gelernt haben, wie nicht nur dieses Tool technisch funktionieren muss, ganz einfach, ganz wenig Text, möglichst also viel positive Motivation, Wenn ein Krankenhaus das verwendet, dann hieß es, wir müssen Emojis verwenden und das viel mehr als Text. Und das funktioniert total gut und es wird angenommen.

Seltmann: Weil gar nicht jeder lesen kann?

Julius Emmrich: Genau, was man auch überbrückt, indem man einfach keine SMS schickt, sondern einen automatisierten Anruf, genau, was dann hilft. Und dies hat uns total geholfen, erst mal richtig los zu starten, also diese Verbindung aus einem wissenschaftlichen Ansatz und einer Implementierung.

Seltmann: Wie groß waren denn die sprachlichen Hürden, mussten sie Madagassisch lernen?

Samuel Knauss: Wir können kein Madagassisch. (lacht) Französisch ist eine der Amtssprachen. Aber ganz wichtig ist natürlich, dass das Ganze auf Madagassisch ist. Und wir haben ein Entwicklerteam in Madagaskar, wir haben ein Implementierungsteam in Madagaskar, und das funktioniert nur, weil wir tolle Leute dort haben und das Ganze doch auch auf Madagassisch entwickelt wird. Also die Software ist in drei Sprachen entwickelt, in Englisch, Französisch und Madagassisch und ist einfach auf andere Sprachen adaptierbar. Das werden wir jetzt auch in Uganda so machen, dass das in den Landessprachen dort verfügbar ist. Das ist ganz wichtig auch für das Vertrauen.

Seltmann: Sie haben angefangen mit Schwangeren und mit Müttern kurz nach der Geburt, warum? Was ist da das medizinische Problem, was fehlt denen an medizinischer Versorgung?

Samuel Knauss: Ja, das hat zwei Gründe, einerseits ist das natürlich eine ganz wichtige Gruppe. Das ist sozusagen ja die Zukunft, auch die Zukunft des Landes. Madagaskar hat eine extrem hohe Müttersterblichkeit und auch Neugeborensterblichkeit, extrem hohe Komplikationsrate. Und ein Hauptgrund ist, weil die sogenannte In-Facility-Delivery-Rate, also wie viel Prozent der Geburten finden im professionellen Kontext statt, sehr niedrig ist im Vergleich. Und das versuchen wir jetzt eben so zu ändern mit diesem Tool.

Seltmann: Also es sterben weniger Mütter?

Samuel Knauss: Na, das werden wir rausfinden Ende 2021, das ist der wissenschaftliche Ansatz, den Herr Emmrich angesprochen hat, das ganze Projekt ist ein randomized controlled trial mit ...

Seltmann: Eine randomisierte klinische Studie.

Samuel Knauss: Genau. (lacht) Die in den drei Distrikten, wo das verfügbar ist, von Anfang an so geplant wurde. Also nur die Hälfte der Gesundheitszentren wurden randomisiert, dieses Tool zu verwenden, die andere Hälfte dient als Kontrollzentren, sodass wir dann am Ende eine Befragung machen von knapp 5000 Frauen, die in dem Projektzeitraum entbunden haben und dann schauen können: Hat die Nutzung dieses Tools tatsächlich dazu beigetragen, dass eine Geburt sicherer geworden ist?

Seltmann: Welche weiteren medizinischen Probleme sind in Madagaskar vorherrschend? Man würde vermuten Infektionskrankheiten?

Julius Emmrich: Ja, also auf jeden Fall, das ist ein Riesenthema, vor allen Dingen Malaria und Tuberkulose. Madagaskar hat sehr viel Glück, dass es von HIV relativ verschont geblieben ist. Viele Erkrankungen, die Kinder betreffen, Kinder unter fünf. Also häufigste und am schwersten verlaufende Erkrankungen sind Durchfallerkrankungen, und dann gibt es aber auch eben in vielen anderen afrikanischen Ländern eine relativ hohe Rate an schweren Verkehrsunfällen, die zum Teil gar nicht und schlecht versorgt werden können. Und was wir jetzt sehen, und das ist aber besonders für dieses Jahr, das ist natürlich COVID und was das für Folgen hat. Es ist nicht so sehr das Virus an sich und die unmittelbaren Krankheitsfolgen von COVID so wie bei uns, die dort das große Problem und Herausforderung darstellen, sondern es sind also eher die Folgen des Managements von COVID auf andere Erkrankungen oder auf das Gesundheitssystem an sich. Also beispielsweise haben ganz wesentliche Impfkampagnen überhaupt nicht stattgefunden. Madagaskar hatte eine ganz schlimme Masern-Epidemie vor ein, zwei Jahren. Es gab dieses Jahr kaum solche Impfungen, weil alle Community Health Worker, Gesundheitsleute sich fast ausschließlich um COVID gekümmert haben. Es gibt plötzlich wieder Hungersnot in Teilen des Landes, wo es seit zehn Jahren nicht so viele Kinder gegeben hat, die mit schwerem Untergewicht in die Einrichtungen kommen. Wir sehen das jetzt relativ dramatisch auch bei den schwangeren Frauen. Also in den Zeiten, wo auch in Madagaskar ein strenger Lockdown war, sind die Zahlen der Frauen, die in einem Krankenhaus gebären, um die Hälfte zurückgegangen. Auch beispielsweise Medikamentenpreise sind extrem gestiegen. Malaria-Medikamente kosten dieses Jahr in Madagaskar dreimal so viel oder sind gar nicht verfügbar, wie in den Jahren zuvor. Und da sind wir sehr dankbar über eine Zusammenarbeit mit der GIZ, also der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, wo wir jetzt in Madagaskar ein Projekt machen können, was auch dieses mTOMADY-Tool nutzt, wo wir auf eine ganz direkte Art und Weise für mindestens 15.000 Patienten und Patientinnen in acht Krankenhäusern in einem ganz ländlichen und einkommensschwachen Teil des Landes solche direkten Zuschüsse für Behandlungskosten geben können für Medikamente und Verbrauchsmaterialien, die ganz direkt den Patienten zugute kommen.

Samuel Knauss: Das Schöne an der Plattform ist, wie jetzt: Wir können das jetzt ad hoc sozusagen einsetzen, um Patientinnen zu unterstützen, Zugang zu essenziellen Versorgungen zu bekommen im Zusammenhang mit COVID. Aber wir können das eben auch einsetzen, und das ist ein Projekt zusammen mit der Klinik für Infektiologie und auch wieder mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, um Tuberkulose-Versorgung in 22 Gesundheitszentren im Süden von Madagaskar zu verbessern und die Surveillance, also die Überwachung, wie viel Tuberkulose-Patienten gibt es, wie viel multiresistente Tuberkulose gibt es in dem Bereich, diese Daten eben digital zu erfassen. Aber wir sind natürlich auch Neurologen, und die Last neurologischer Erkrankungen ist führend. Und auch in Subsaharaafrika nimmt das zu, also sowohl Infektionserkrankungen sind weiterhin hoch, aber jetzt eben in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer mehr auch die nicht übertragbaren Erkrankungen und da eben allen voran Schlaganfälle und Herzinfarkte. Und da haben wir jetzt eben das angesprochene Projekt in Uganda, wo wir schauen: Wie können wir diese Plattform einsetzen, um ein integriertes Versorgungsmodell für Patienten mit Bluthochdruck zu schaffen und eben auch im Falle eines Schlaganfalles, so gesehen eine Komplikation des Bluthochdrucks, dann die Versorgung, die finanziellen Risiken dieser Erkrankung zu mildern.

Seltmann: Noch mal kurz zurück zu den Handys, mit denen bezahlt werden kann. Das müssen aber keine iPhones 10 sein?

Julius Emmrich: Nein, also das geht tatsächlich mit den allereinfachsten Geräten. Und es geht noch eine Stufe einfacher, das, was eigentlich benötigt wird, um an dem System teilzunehmen, ist nur eine SIM-Karte, also nicht mal das Handy. Und was wir sehen, ist, dass manche Patientinnen und Patienten sich kleine Aufbewahrungsgerätschaften basteln, um diese SIM-Karten mit sich sicher tragen zu können, also kleine Armreifen oder solche Ketten. Und dann geht es wirklich super einfach: Man nimmt die SIM-Karte mit in eine Klinik und dort kann man jedes Telefon, die Klinik hat meistens dann eines schon da liegen für Patienten, man macht also die SIM-Karte dort rein und hat Zugang zu seinem Account und kann das verwenden.

Seltmann: Wie kommt das Geld auf die SIM-Karte? Wie zahlt man sozusagen ein?

Samuel Knauss: Ja, das ist eben diese angesprochene Mobile-Money-Infrastruktur. An jedem Mobile Money Cash Point, das ist im Zweifelsfall ein Mensch, der unter einem Schirm sitzt und dort Geld annimmt, und da gibt es Hunderttausende im ganzen Land, auch in den ländlichsten Regionen, kann man dort eben Bargeld umwandeln in dieses Mobile Money, und dann ist das sozusagen im Kreislauf. Oder häufig ist es auch so, dass die Patientinnen und Patienten direkt, ihre Einnahmen direkt schon über Mobile Money bekommen, und von dort kann man das direkt einzahlen auf die Plattform, über jedes einfache Mobiltelefon.

Seltmann: Jedes Netz kann auch geknackt werden. Wie sicher ist denn dieses System?

Julius Emmrich: Ja, das ist eine gute Frage. Also es ein ganz wichtiges Ziel gewesen, eine ganz hohe Transparenz und Sicherheit im Vergleich zu den Cash Payments, die die Alternative wären, darzustellen. Es gibt keine Gebührenordnung. Es gibt keine angeschlagenen Preise. Es ist praktisch immer eine individuelle Verhandlung zwischen Patient und dem- oder derjenigen, der gerade an der Kasse sitzt, wie teuer jetzt eine Behandlung ist. Und das kann heute so viel kosten und morgen so viel. Eine Packung Penizillin kostet so viel und am anderen Tag dreimal. Das ist schon von vornherein dann nicht mehr möglich, wenn das digital abgerechnet wird, weil da dann die jeweiligen Preislisten und grundlegende Verträge mit den Gesundheitseinrichtungen zugrunde liegen. Und zusätzlich dazu, und da haben wir jetzt viel Zeit und Gedanken drauf verwendet, gibt es die Möglichkeit, über diese Plattform mit relativ cleveren Algorithmen nach Anomalien zu suchen. Also ist eine bestimmte Behandlung zu einem bestimmten Zeitpunkt bei einer bestimmten Erkrankung eher wahrscheinlich oder eher nicht? Ist es wahrscheinlich, dass ein Krankenhaus zu einer bestimmten Uhrzeit am Tag plötzlich eine Riesenzahl an gleichen Patienten sieht oder eher nicht? Und das haben wir also von vornherein mit eingebaut, dieser Schutz gegen wissentlichen und auch unwissentlichen Betrug oder Fehlverwendung von Mitteln, ja.

Samuel Knauss: Und ganz anderer Aspekt ist ja der Schutz der Daten, die wir dann da sammeln. Wir sind da als Ärzte natürlich sehr sensibilisiert für. Wir hantieren hier mit den, glaube ich, sensibelsten Daten, das sind medizinische Daten und finanzielle Daten. Und das ist uns bewusst und das nehmen wir sehr zur Kenntnis und folgen hier den Industriestandards für Verschlüsselung, für Sicherheit, auch jede Transaktion ist mit so einer sogenannten Transaktionsnummer, einer TAN, wie man es von der Bank kennt hier aus Deutschland, auch abgesichert, die ein Patient erhält und eingeben muss. Und es gibt nicht eine große Datenbank, auf der alles liegt, sondern es sind getrennte Datenbanken, auf die dann auch nur ganz spezielle Gruppen zugreifen können, und also State of the Art, sicherer geht’s sozusagen nicht. Aber natürlich, jedes System ist am Ende hackbar. Aber wir bleiben da dran und iterieren das kontinuierlich und schauen, dass wir keine Lücken haben.

Seltmann: Das hört sich nach einem ziemlich zeitraubenden Projekt an, eigentlich fast mehr, als man überhaupt schaffen kann. Aber ursprünglich wollten Sie ja mal Neurologen werden – wie viel Zeit haben Sie denn noch dafür? Verfolgen Sie nach wie vor das Ziel, Ihren Facharzt in Neurologie zu machen?

Julius Emmrich: Ja, also selbstverständlich. Und es ist so Hälfte-Hälfte. Hälfte klinisch, Hälfte Forschung und Projekt, aber das sind natürlich viel mehr Leute als wir zwei. Also was über die letzten Jahre da gewachsen ist an Team und an Leuten mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, Leute, die Software coden können und die Prozesse analysieren können und die solche iterativen Prozesse begleiten können, wie so ein Softwaretool angepasst werden muss, damit es überhaupt funktioniert, über die Leute, die wissenschaftlich mit dazugekommen sind, es ist ja eine ganze Arbeitsgruppe an der Charité jetzt entstanden, das Global digital Health Lab, und da sind also zehn Studenten, Master-Studenten und Doktoranden mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Das sind zum Teil Leute, die kommen aus Data Science oder Mathematik, Medizin, Global Health und auch ganz international, also wir haben, glaube ich, neun Nationalitäten jetzt bei uns im Team, das ist extrem motivierend. Und ohne Team wäre das überhaupt nicht möglich, was wir hier machen.

Seltmann: Herr Knauss, wie oft waren Sie in Madagaskar im letzten Jahr?

Samuel Knauss: Im letzten Jahr – 2020?

Seltmann: Ja.

Samuel Knauss: Null, leider. Nein, das stimmt gar nicht. Eins. Eins, im Februar, normalerweise sind wir natürlich häufiger da, aber dieses Jahr wurde das alles natürlich durch die Pandemie unterbrochen. Ich war tatsächlich, kurz bevor die Grenzen Anfang März dichtgemacht wurden, war ich noch mal dort und habe die Integration der Krankenversicherung dort begleitet, aber seitdem nicht mehr. Und das funktioniert nur deswegen weiter, weil wir eben ein großes Team in Madagaskar haben, das sehr unabhängig operieren kann und dort die Projekte weitermachen kann und umsetzen kann.

Seltmann: Und auch Sie sehen Ihre Zukunft eher in der Neurologie in der Charité als im Subsaharian Africa?

Samuel Knauss: Ich glaube gar nicht, dass sich das widerspricht. Also ich sehe meine Zukunft in der Neurologie an der Charité, 100 Prozent. Aber ich denke, gerade als Neurologen sollten wir unsere Aufgabe in der globalen Gesundheit sehr viel mehr wahrnehmen. Leider erfährt die globale Neurologie bisher in der Neurologie nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Wie schon angesprochen: Neurologische Erkrankungen haben die höchste Krankheitslast weltweit. Und da müssen wir uns als Neurologen drum kümmern, da müssen wir Lösungen finden und dazu gehören sicherlich auch digitale Lösungen.

Seltmann: Herr Emmrich, wo ist Ihre Zukunft, in Berlin oder in Afrika?

Julius Emmrich: Also ein Bein hier, ein Bein da, ich würde mich da ganz anschließen an dem, was Herr Knauss gesagt hat. Diese Kombination der verschiedenen Themengebiete und auch diese tollen Möglichkeiten und Leute, mit denen man da zusammenkommt, die macht das Projekt an sich enorm stark. Und ich glaube, wir haben da tolle Erfahrungen sammeln können und auch hier wieder dank Unterstützung durch das BIH mit der Freistellung, die wir jetzt haben durch dieses Digital Clinician Scientist-Programm für eben 50 Prozent unserer Zeit, die wir auch genutzt haben, um zu lernen, wie so was gut kombiniert werden kann.

Samuel Knauss: Und die Unterstützung unserer Klinik. Also wir sind da sehr dankbar auch der Offenheit am BIH und an der Klinik für Neurologie, eben diesen etwas ungewöhnlichen Weg zu gehen und auch da zu sehen, dass eben Gesundheit nicht am S-Bahn-Ring aufhört, und dass es auch die Aufgabe vom BIH ist, sich international zu engagieren, und das Wissen, was wir hier generieren, und die Translation eben umzusetzen in verbesserte Versorgung weltweit.

Seltmann: Jetzt ist Weihnachten. Wünschen Sie sich eine Spende für Ihre Plattform, für Ihr Unternehmen, für Ihr Projekt?

Julius Emmrich: Also wir freuen uns sehr über Spenden. Rein praktisch ist es so, dass der Verein Ärzte für Madagaskar seit zehn Jahren Arbeit in Madagaskar macht, vieles aus der Vereinsarbeit heraus hervorgegangen ist, wir sehr eng mit dem Verein zusammenarbeiten. Wenn da jemand unterstützen möchte, wir freuen uns sehr, das Spenden kann man online: https://www.aerzte-fuer-madagaskar.de/ Vielen Dank.

Seltmann: Vielen Dank, Herr Emmrich, Herr Knauss für das Gespräch und ich wünsche Ihnen natürlich viel Erfolg mit Ihrem Projekt.

Samuel Knauss: Danke schön.

Julius Emmrich: Danke.

Und das war der BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health, dem BIH. Dr. Julius Emmerich und Dr. Samuel Knauß berichteten über ihr Projekt im Digital Health Accelerator des BIH, mit dem sie die Gesundheitsversorgung in Madagaskar für viele Menschen bezahlbar machen möchten. Falls Sie für dieses Projekt etwas spenden möchten, schauen Sie doch einmal unter www.aerzte-fuer-madagaskar.de und falls Sie eine Frage zur Gesundheit oder zur Gesundheitsforschung haben, schicken Sie sie gerne an podcast@bihealth.de Tschüss und bis zum nächsten Mal sagt Stefanie Seltmann.

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