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Interviewpartner: Dr. Anton Henssen

Podcast-Folge 2 zum Nachlesen

Herzlich willkommen zum Podcast "Aus Forschung wird Gesundheit" aus dem Berlin Institute of Health, dem BIH. Wir wollen in diesem Podcast Fragen beantworten rund um das Thema Gesundheit und Gesundheitsforschung. Mein Name ist Stefanie Seltmann.

Heute bin ich zu Gast in der Kinderklinik der Charité am Campus Virchow-Klinikum, und ich möchte wissen, warum schon kleine Kinder an Krebs erkranken können. Sie haben nie geraucht, keinen Alkohol getrunken oder sich sonst ungesund verhalten und haben schon gar nicht lange genug gelebt, um aus Altersgründen Fehler in ihrem Erbgut angesammelt zu haben. Beantworten kann mir diese Frage. Dr. Anton Henssen. Er leitet eine Nachwuchsgruppe an der Kinderklinik und forscht im Clinician Scientist Programm des BIH.

Herr Henssen, warum erkranken Kinder an Krebs?

Henssen: Diese Frage wird mir häufiger von Eltern gestellt. Denn viele Eltern wundern sich und fragen sich Nummer eins, ob sie etwas Falsches getan haben. Zweitens fragen sie sich, ob das etwas ist, was sie selber den Kindern vererbt haben könnten. Und diese Fragen beschäftigen mich deswegen schon, seitdem ich als Kinderarzt angefangen habe zu arbeiten in der Kinderonkologie. Das hat mich auch dazu geführt, dass ich meine Forschung begonnen habe. Und was wir mittlerweile wissen, ist, dass es immer noch nicht ganz klar ist, warum Kinder Krebs entwickeln. Was wir feststellen können, ist, dass Kinder erstaunlicherweise viele Veränderungen in ihrem Erbgut haben. Und die Gründe, wieso diese entstehen, erforschen wir. Was wir mittlerweile wissen, ist, dass ein kleiner Teil von Kindern, etwa maximal zehn Prozent, in der Tat genetische Veränderungen von ihren Eltern vererbt bekommen haben, die zu einer Prädisposition führen.

Eine Prädisposition heißt: eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sie an Krebs erkranken?

Henssen: Genau. Das heißt, dass diese genetische Veränderung, die sie von ihren Eltern bekommen haben, die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass diese Kinder an Krebs erkranken. Dies erklärt jedoch nicht, warum sie dann letztendlich Krebs bekommen, denn eine große Zahl von Patienten mit diesen Veränderungen bekommt keinen Krebs. Desweiteren finden wir, dass diese Veränderungen im Erbgut bei Kindern teilweise in den Zellen schon während der embryonalen Entwicklung da sind und wiederum in vielen dieser Patienten, die diese Veränderung haben, auch kein Krebs entsteht. Das heißt, es müssen andere Veränderungen hinzukommen, und wie diese Veränderungen entstehen, das erforsche ich in meinem Labor.

Können Sie denn den Eltern so ein bisschen die Last von den Schultern nehmen? Haben sie irgendwas falsch gemacht oder ist das nicht der Fall?

Henssen: Also bisher können wir den Eltern die Last sehr gut nehmen, denn bisher gibt es keinerlei Hinweise dafür, dass die Eltern irgendwas falsch gemacht haben könnten. Wir haben keine Hinweise dafür, dass es irgendwelche Infektionserkrankungen oder irgendwelche Ernährungs- oder andere Verhaltensweisen gibt, die Krebserkrankungen im Kindesalter fördern. Ganz im Gegenteil, was wir finden ist, dass die meisten dieser Veränderungen sich wahrscheinlich dadurch erklären lassen, dass während der embryonalen Entwicklung einfach etwas falschgelaufen ist, was man vorher hätte gar nicht vorhersehen können.

Das heißt, diese Veränderungen im Erbgut sind eher zufällig entstanden?

Henssen: Viele dieser Veränderungen sind wahrscheinlich zufällig entstanden. Wir erforschen nun Mechanismen, die diesen Prozess fördern können, und versuchen herauszufinden, ob er wirklich hundert Prozent zufällig ist. Das ist die Frage, die wir uns stellen.

Kinder erkranken ja häufig nicht an den Krebsarten, die die Erwachsenen betreffen, also Darmkrebs, Brustkrebs, Prostatakrebs. Das gibt es bei Kindern nicht. Bei Kindern sind vor allen Dingen die Blutkrebsarten, also Leukämien und Lymphome, vorhanden und Hirntumoren. Weiß man denn, warum bei Kindern ausgerechnet diese Krebsarten häufig sind?

Henssen: Es stimmt, dass die Bluterkrankungen sowie Hirntumoren und auch andere solide Tumore wie zum Beispiel das Neuroblastom sehr häufig bei Kindern zu finden sind und bei Erwachsenen eher selten zu finden sind. Die Gründe dafür sieht man vor allen Dingen darin, dass die Zellen, aus denen diese Tumore entstehen, Zellen sind, die während der embryonalen Entwicklung es nicht komplett geschafft haben, sich so zu entwickeln, wie sie sich hätten entwickeln sollen. Andererseits bekommen Kinder eben nicht die klassischen Krebserkrankungen, die Erwachsene bekommen, wie zum Beispiel Lungenkrebs oder andere. Diese Krebserkrankungen lassen sich eben durch externe Faktoren besser erklären wie zum Beispiel Rauchen, Alkohol und andere Verhaltensweisen.

Und weiß man denn, wie diese genetischen Veränderungen dann zum Krebs führen? Bewirken die, dass sich die Zellen schneller teilen?

Henssen: Es gibt verschiedene Faktoren, die diese Veränderungen im Erbgut beeinflussen. Was wir wissen und was für sehr wichtig gehalten wird, ist, dass einerseits, die Zellen nicht mehr wissen, was sie eigentlich zu tun haben. In der embryonalen Entwicklung hat jede Zelle ihre eigene Aufgabe. Zum Beispiel gibt es Zellen, die dazu da sind, die Leber entwickeln zu lassen. Andere Zellen sollen eben zu Hautzellen werden. Und ein wichtiger Faktor ist, dass diese Erbgutveränderungen dazu führen, dass diese Zellen auf eine Art und Weise verwirrt sind und sich deswegen nicht mehr vollends entwickeln und nicht mehr zu den Zellen werden, die sie eigentlich werden sollen. Das ist das eine. Das andere ist natürlich, dass wir Faktoren sehen, die dazu führen, dass die Zellen nicht mehr wissen, wann sie aufhören sollen, sich zu teilen oder eben Veränderungen, die dazu führen, dass die Zellen sich noch mehr teilen, als sie normalerweise sollten. Dadurch kommt es zu einer erhöhten Zellzahl. Und diese erhöhte Zellzahl äußert sich dann natürlich als Tumormasse.

Jetzt haben Sie einen neuen Mechanismus entdeckt, wie Fehler ins Erbgut von Kindern gelangen und dann möglicherweise Tumoren entstehen lassen. Können Sie das ein bisschen beschreiben?

Henssen: Das, was wir in unserem Labor zusammen in Kooperation mit Laboren aus den USA, aus dem Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York gefunden haben, ist, dass es gewisse Faktoren gibt, die in Zellen während der embryonalen Entwicklung wichtig sind, die aber, wenn sie falsch programmiert sind, dazu führen können, dass das Erbgut durcheinandergeworfen wird. Diese Faktoren heißen Transposasen und können letztendlich so ähnlich wie Scheren das Erbgut zerschneiden und dadurch dazu führen, dass das Erbgut eben durcheinanderkommt. Wenn dann die Zelle versucht, das Erbgut abzulesen, so wie wenn man einen normalen Text lesen würde, fehlen auf einmal gewisse Worte. Und diese Worte lassen sich dann wiederum an anderen Stellen wiederfinden und sind von einer Stelle zur anderen gesprungen. Man nennt dieser Elemente deswegen auch springende Elemente oder Transposons.

Können Sie denn diesen entdeckten Mechanismus irgendwie nutzen auch für die Therapie, wenn man sozusagen die Ursache kennt, dass man dann auch gezielt vorgehen kann?

Henssen: Ja, in der Tat glauben wir, dass die Scheren an sich, dadurch, dass sie weiter aktiv bleiben in den Tumoren, auch ein gewisser Ansatzpunkt sind. Denn was wir gefunden haben, ist, dass dadurch, dass diese Scheren so aktiv sind, das Erbgut sehr fragil ist. Und deswegen glauben wir, dass wir diese Zellen auch behandeln können, indem wir diese Fragilität des Erbguts, diese Zerbrechlichkeit ausnutzen und die Zellen dadurch zerstören können, dass wir diese Zerbrechlichkeit noch weiter anstoßen und dadurch die Zelle komplett in sich zusammenfällt.

Es gibt ja in der Zelle einen sogenannten Reparaturmechanismus, der das Erbgut, wenn es denn ein bisschen zerstört ist, wieder zusammenflickt. Und diesen Reparaturmechanismus, den sind Sie ja, glaube ich, gezielt angegangen?

Henssen: Genau richtig. Also wie ich eben gesagt habe, führen diese Faktoren, diese Transposasen, diese Scheren dazu, dass das Genom sehr häufig zerbricht. Und die Zelle hat deswegen Reparaturfaktoren, um diese ganzen Brüche zu reparieren. Wir haben uns deswegen angeguckt, ob wir diese Reparaturmechanismen hemmen können. Durch die Hemmung dieser Reparaturmechanismen ist uns aufgefallen, dass besonders Tumoren, in denen diese Faktoren, diese Scheren sehr aktiv sind, sterben, wenn wir diese Reparaturmechanismen hemmen.

Gibt es schon Medikamente, die diese Reparaturmechanismen hemmen? Oder müssen Sie da jetzt extra etwas entwickeln?

Henssen: Es gibt zum Glück schon einige Medikamente, die entwickelt wurden, um diese Reparaturmechanismen zu hemmen. Diese Medikamente sind mittlerweile auch bei Erwachsenen in Testung, das heißt, es gibt jetzt klinische Studien zu verschiedenen solcher Medikamente. Es gibt verschiedene Unternehmen, die Medikamente hierzu entwickeln. Wir versuchen natürlich jetzt diese Unternehmen zu überzeugen, dass wir diese Medikamente auch in Kindern nutzen wollen, um diese Kinder besser behandeln zu können. Denn was im Moment passiert, ist, dass diese Medikamente natürlich bei Erwachsenen häufig getestet werden, aber in Kindern selten zur Anwendung kommen. Und das wollen wir ändern.

Für wie viele Kinder käme denn eine solche Behandlung infrage? Ist das eine kleine Besonderheit oder betrifft das viele Kinder mit Krebs?

Henssen: Wir glauben, dass eine solche reparaturspezifische Therapie bei sehr vielen Kindern infrage käme, denn auch jetzt schon basieren die meisten Therapien, die wir bei Kindern anwenden, schon darauf, dass wir in diesen Zellen durch diese Therapien Schäden verursachen, die auch auf dieser Reparatur beruhen. Das heißt, wir glauben, dass wir auf zweierlei Hinsicht diese Therapie nutzen können. Einerseits, um diesen neuen Faktor zu hemmen, den wir entdeckt haben, andererseits aber auch, um die bisherigen Therapien, die auch zu Schäden im Erbgut und zur Zerbrechlichkeit des Erbguts führen, zu potenzieren. Das heißt, die bisherigen Therapien dadurch zu verbessern, indem wir diese neuen Medikamente hinzufügen.

Die gute Nachricht ist ja eigentlich, dass sehr viele Kinder gut behandelbar sind, sehr viele leukämiekranke Patienten, bis zu 90 Prozent können von ihrer Krankheit geheilt werden. Bei den Hirntumoren sieht es nicht ganz so gut aus. Glauben Sie, dass Ihre Reparaturhemmungstherapie-Idee eine weitere Säule sein könnte in dem Therapiespektrum, was man Kindern anbieten könnte, und damit die Heilungschancen weiter erhöhen würde?

Henssen: Ja, in der Tat ist es so, dass es bereits bei manchen Tumorerkrankungen so ist, dass wir diese sehr gut behandeln können. Die Tumore, die ich erforsche, sind solide Tumore wie zum Beispiel das Neuroblastom oder das Rhabdomyosarkom oder auch Hirntumore. Und bei diesen Tumoren sieht es leider in einem gewissen Teil der Fälle so aus, dass manche dieser Tumore sehr, sehr schwierig zu behandeln sind. Und alle Therapien, die wir in den letzten Jahren entwickelt haben, oder viele dieser Therapien haben bisher noch nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Ich glaube fest daran, dass diese neuen reparaturhemmenden Medikamente dazu führen könnten, dass wir die Therapie in diesen Fällen, in denen die anderen Therapien bisher nicht gewirkt haben, deutlich verbessern könnten.

Herr Henssen, Sie haben bereits in Vorversuchen gezeigt, dass diese Therapie äußerst vielversprechend ist. Sie könnte gut funktionieren. Wie lange kann das denn jetzt noch dauern, bis eine solche neue Therapie tatsächlich bei den Kindern zugelassen ist?

Henssen: Das ist in der Tat ein sehr langwieriger Prozess. Vor allen Dingen bei Kindern ist es sehr schwierig, solche Therapien zuzulassen und zu entwickeln. Das liegt daran, dass in der Industrie im Moment das Interesse vor allem darin besteht, diese Therapien für Erwachsene zu entwickeln. Das heißt, dass die meiste Entwicklungsarbeit in der Entwicklung solcher Therapien für Kinder bei uns Akademikern liegt. Und die akademische Forschung braucht daher dringend Unterstützung, um solche Therapien weiterzuentwickeln. Denn auf Industrieseite besteht im Moment noch kein großes Interesse, dies zu tun. Insofern kann ich Ihnen leider keine Vorhersage machen, da wir Moment weiter händeringend danach suchen, dass wir dort Schritte nach vorne machen. Ich hoffe, dass wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren solche Therapien zur Anwendung, zur täglichen Anwendung kommen können und somit dann die Therapie bei Kindern verbessern können.

In der Erwachsenentherapie ist zurzeit sehr viel die Rede von der sogenannten Immuntherapie, bei der das Immunsystem mit in die Bekämpfung der Krankheit einbezogen wird. Wie sieht es denn da bei Kindern aus, kommt da die Immuntherapie auch schon zum Tragen?

Henssen: Daran forscht eine Kollegin, die auch am BIH arbeitet, Annette Künkele. Wir glauben, dass Immuntherapie auch eine wichtige Säule der Therapie bei Kindern sein wird. Nichtsdestotrotz glauben wir, dass die Immuntherapie alleine es nicht in den meisten Fällen schaffen wird, den Tumor komplett zu behandeln. Außerdem ist beobachtet worden, dass eine Kombination aus verschiedenen Therapien meist mehr Erfolge bringen kann als eine einzige Therapie. Was wir Moment versuchen zu erforschen, ist auch, ob zum Beispiel die Therapien, die wir jetzt entwickeln, diese reparaturhemmenden Mittel, vielleicht auch in Kombination mit der Immuntherapie zu einem noch größeren Erfolg führen könnten.

Ein kleiner Haken an der erfolgreichen Therapie von Kindern ist, dass sie häufig Langzeitnebenwirkungen erfahren. Also die Kinder werden zwar in jungen Jahren geheilt von ihrer Krebserkrankung, leiden aber bis ins Erwachsenenalter unter den Folgen der Therapie. Sie haben teilweise Gehörschäden, es gibt Herzprobleme, es gibt Probleme mit der Fruchtbarkeit. Hat sich denn auch auf diesem Gebiet etwas getan?

Henssen: Ja, in der Tat ist es so, dass wir in den Fällen, in denen wir die Patienten jetzt glücklicherweise heilen können, herausfinden, dass in den Jahren danach es zu Nebenwirkungen der sehr toxischen Therapien, die in den letzten hundert Jahren entwickelt wurden, kommen kann. Wir arbeiten in dem Sinne daran, dass wir die Langzeitnebenwirkungen verbessern wollen, indem wir die Therapien immer zielgerichteter machen. Das heißt, wir hemmen spezifische Funktionen, die der Tumor zum Überleben braucht, andere Zellen aber aus unserem Körper können darauf zum Teil verzichten und werden deswegen durch diese Therapie nicht so stark beeinflusst. Außerdem ist wiederum hier die Kombination aus verschiedenen Therapien sehr sinnvoll. Was häufig zu toxischen Nebenwirkungen führt, ist, wenn man Therapien in sehr hohen Dosierungen gibt, sodass das Nebenwirkungsprofil bei hohen Dosierungen schlechter wird. Wenn wir natürlich verschiedene Therapien kombinieren können, können wir jede einzelne Therapie in geringerem Maße applizieren und können dadurch Nebenwirkungen auch vermeiden.

Vielen Dank, Herr Henssen. Dann wünschen wir Ihnen alles Gute für Ihre weitere Forschung und für die weitere Entwicklung der Therapie.

Das war der BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institut of Health. Dr. Anton Henssen antwortete auf die Frage: Warum erkranken Kinder an Krebs? Am Mikrofon verabschiedet sich Stefanie Seltmann.

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