Professor Ioannidis, vor über zehn Jahren haben Sie Ihren berühmten Artikel „Warum die meisten publizierten Forschungsergebnisse falsch sind“ veröffentlicht. Das Feld der Meta‐ Analyse war damals nicht komplett neu, aber mit der Dynamik, die durch Ihren Artikel entstand, scheinen Sie beachtliche Energie hinter Ihrer Initiative, die Forschungspraxis zu verbessern, versammelt zu haben. Wie schätzen Sie die Veränderungen seitdem ein?
Es gab beachtliche Verbesserungen in der Art und Weise, wie wir forschen und was wir mit unserer Forschung anfangen können. Dies wurde durch mehrere Interventionen, Ideen und Konzepte ermöglicht und sollte der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft angerechnet werden, nicht einzelnen Personen. Es handelt sich um einen evolutionären Prozess, der hoffentlich dazu führt, dass wir unsere wissenschaftlichen Instrumente besser anwenden können. Jede Woche gibt es neue Entwicklungen im Hinblick darauf, wie wir Studien entwerfen, welche Methoden wir verwenden, wie wir Probleme in der Methodik erkennen und beheben, wie wir Forschung veröffentlichen und bewerten, und nach welchen Kriterien wir Forscher auszeichnen. Ich empfinde es als stimulierend, dass ich nicht voraussagen kann, was in der nächsten Woche meine Aufmerksamkeit erregen wird.
Können Sie uns ein paar Beispiele nennen, was sich verändert hat?
Ein Bereich, in dem beeindruckende Veränderungen stattfinden, ist die gemeinsame Datennutzung. Diese Entwicklung ist in einigen Disziplinen stärker zu beobachten als in anderen. In der Genetik, Physik und sogar einigen Sozialwissenschaften wie der Psychologie sind Wissenschaftler beispielsweise besonders bereit, ihre Daten miteinander zu teilen. In anderen Disziplinen, zum Beispiel in der Ernährungsepidemiologie, ist man wesentlich zurückhaltender in dieser Hinsicht. In der Vergangenheit war nicht einmal gewährleistet, dass Daten überhaupt zugänglich gemacht werden, heute argumentieren wir, dass die Daten bereitgestellt werden sollten – in einigen Feldern sogar bevor sie erstmals auswertet werden. Insbesondere in den stark quantitativ ausgerichteten Fachgebieten, den sogenannten Omics, hat eine einzelne Arbeitsgruppe nur sehr begrenzte Möglichkeiten, aus den Datenbruchstücken, die sie erheben, bedeutsame Rückschlüsse zu ziehen. Wenn allerdings alle Forschungsgruppen ihre Ergebnisse in eine stetig wachsende Datenbank einspeisen, könnte die Wissenschaftsgemeinde die Gesamtheit aller Daten wesentlich effizienter analysieren. Auch bei der Registrierung von Studien gab es gravierende Veränderungen. Noch vor zehn Jahren gab es die Möglichkeit gar nicht, heute ist sie bei randomisierten Studien eine weit verbreitete Praxis. Dadurch haben wir eine bessere Vorstellung davon, welche Ergebnisse potentiell vorliegen im Vergleich zum sichtbaren Anteil, der publiziert wurde. Viele Disziplinen haben außerdem realisiert, dass sowohl ihre statistischen Methoden als auch ihre Vorkehrungen gegen Bias unzureichend sind. Bis vor kurzem waren die Studiengrößen und Fallzahlen vieler Tierversuche, Laboruntersuchungen und auch klinischer Studien viel zu niedrig, um aussagekräftig zu sein und daher anfällig für falsch‐positive oder falsch‐negative Ergebnisse. Wissenschaftler aus aller Welt sind sich einig, dass umfangreiche, sorgfältig durchgeführte Studien besser reproduzierbar und präzise Protokolle unabdingbar sind. Es wurde außerdem klar, dass es notwendig sein wird, viele bahnbrechende Studien zu wiederholen, um ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen.
Nun eröffnen Sie als Einstein BIH Visiting Fellow der Stiftung Charité das Meta‐Research Innovation Center Berlin (METRIC‐B). Welche Pläne haben Sie für das METRIC‐B und Ihre Zusammenarbeit mit dem QUEST‐Center des Berlin Institute of Health?
METRIC‐B soll ein Pendant des Meta‐Research Innovation Center at Stanford – METRICS werden, bei dem die Forschung über Forschung im Mittelpunkt steht. Unser Ziel ist es, die Forschungspraxis zu verbessern und dadurch einen Mehrwert für die Qualität und die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft zu schaffen. Unsere Arbeit zeichnet sich durch Interdisziplinarität und die Fähigkeit aus, von anderen Disziplinen zu lernen und sie miteinander zu verbinden. Berlin ist eine spannende Umgebung für das neue Meta‐ Research‐Center, da hier bereits viele Forschungsgruppen für das Thema sensibilisiert sind. Am Berlin Institute of Health wurde vor eineinhalb Jahren das QUEST‐Center gegründet, um die Wissenschaftskultur in der Biomedizin zu verändern, somit hat die Agenda von QUEST viele Schnittpunkte mit den Zielen von METRICS und METRIC‐B. Viele Wissenschaftler, die ich in Berlin, Deutschland und Europa kenne, würden gerne an unseren Projekten teilhaben. Daher möchte ich einen Knotenpunkt zur Vernetzung und einen Raum für verschiedene Initiativen schaffen. Vor Ort in Berlin zu sein, bietet mir Möglichkeiten, die ich nicht hätte, während ich am anderen Ende der Welt sitze. Insbesondere erlaubt es mir, mich mit interessanten Menschen zu treffen und mich über die Grenzen einzelner Forschungsgebiete hinweg zu vernetzen.
In Deutschland schauen wir oft mit Bewunderung auf die Vereinigten Staaten mit ihren vielen Elite‐Universitäten und Nobelpreisträgern. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach Deutschland und Berlin im Besonderen für die biomedizinische Forschungsgemeinde?
Berlin ist der ideale Standort, um unsere Qualitätsoffensive in der Biomedizin zu starten. Es gibt hervorragende Forschung in den USA und ich bin sehr froh, an der Stanford University zu arbeiten – die Forschungsumgebung dort ist eine ganz besondere. Dennoch gibt es ebenso beeindruckende Forschung in Europa, vor allem in Berlin – und Europa hat großes Potenzial, noch mehr zu erreichen. Vor nicht allzu langer Zeit galt Berlin als die Hauptstadt der Naturwissenschaften und der Physik, der Mathematik und der akademischen Forschung. Vieles hängt davon ab, wie sehr sich eine Gesellschaft darum bemüht, eine führende Rolle in der Wissenschaft zu übernehmen. Europa hat eine starke Wissenschaftstradition und Deutschland ist heute das Epizentrum Europas. Natürlich kann das keine einzelne Person mithilfe eines magischen Zauberstabs erwirken, sondern es bedarf gesellschaftlichen Engagements. Ich bin sehr stolz, als Einstein BIH Visiting Fellow nach Berlin gekommen zu sein. Ich hielt das Programm sofort für eine brillante Idee und der Traum wurde wahr. Für mich ist es eine einzigartige Möglichkeit, an einem Ort etwas zu erschaffen, der sich für mich beinahe wie zu Hause anfühlt. Das steigert meine Begeisterung noch mehr und Begeisterung ist eine der Hauptzutaten, um ein großes Projekt anzustoßen. Ich bin also gespannt, was wir hier gemeinsam in den nächsten drei Jahren erreichen können.
Das Interview führten Michelle Mülhausen, Projektmanagerin für Wissenschaftsförderung der Stiftung Charité und Stefanie Seltmann, Leiterin Kommunikation und Marketing am Berlin Institute of Health (BIH).