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Bereits im Jahr 2016 startete die Charité eine Initiative für Patient*innen mit Multipler Sklerose (MS), mit dem Ziel, die Qualität klinischer MS-Studien zu verbessern und die Patientenrelevanz zu erhöhen. Nach Gesprächen mit dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium für Gesundheit und pharmazeutischen Unternehmen entwickelte die Charité ein Konzept, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Dabei orientierte sie sich an dem US-amerikanischen „Forum for Collaborative HIV-Research“. Als neutrale Institution vernetzt die Initiative nun Patientenvertreter*innen, Expert*innen für MS, Behörden und Institutionen im Gesundheitswesen sowie forschende pharmazeutische Unternehmen, um gemeinsam bereits im frühen Stadium Vorschläge für das Design von Studien zur Arzneimitteltherapie zu unterbreiten. Besonderes Augenmerk legt die Initiative dabei auch auf patientenrelevante Endpunkte und die Entwicklung von Studien und Registern für die Gewinnung besserer Erkenntnisse zu Nutzen und Schaden von MS-Arzneimitteln in der Zeit nach der Zulassung. 

Hintergrund:

Multiple Sklerose ist die häufigste Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems: In Deutschland sind mehr als 200.000 Menschen betroffen. Sie leiden an Seh- und Empfindungsstörungen sowie Einschränkungen der Koordinationsfähigkeit bis hin zu Lähmungen. Die Erkrankung wird meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr diagnostiziert und ist bislang nicht heilbar. Bei 85 bis 90 Prozent der Patient*innen verläuft die Erkrankung zu Beginn mit schubweise auftretenden neurologischen Ausfällen, die sich in der Regel vollständig oder teilweise zurückbilden. Nach Jahren bis Jahrzehnten kommt es oft zum Übergang in einen chronisch-fortschreitenden Verlauf mit einer schleichenden Verschlechterung des neurologischen Zustands. Seit der Entwicklung der ersten Immuntherapie im Jahr 1995 wurden zahlreiche Substanzen zur immunmodulierenden Behandlung der MS zugelassen mit dem Ziel, die Zahl der Schübe zu verringern. Seitdem hat sich die Therapielandschaft erheblich weiterentwickelt und schließt neben einem reinen Ansatz zur Prävention von Schüben auch die auf die individuelle Situation ausgerichtete medizinische Versorgung mit ein.

Für Betroffene haben bestimmte Symptome und Krankheitsfolgen eine sehr hohe Bedeutung, denen heutzutage in klinischen Studien kaum Bedeutung beigemessen wird. Das konnte auch eine Studie (1) einer Arbeitsgruppe aus der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zeigen: Bei einer Untersuchung von 29 zulassungsrelevanten Phase-III-Studien zur verlaufsmodifizierenden beziehungsweise immunmodulierenden Behandlung der MS zeigte sich, dass die Patient*innenperspektive und damit Symptome wie Fatigue, also Müdigkeit und erhöhte Erschöpfbarkeit, oder die gesundheitsbezogene Lebensqualität in der Regel nicht berücksichtigt wurden. Dagegen wurden biologische Indikatoren und Endpunkte zu bildgebenden Verfahren mit unklarer Bedeutung für die Krankheitsschwere der Betroffenen regelhaft untersucht.

Zukünftige Studien bei MS sollten dem unmittelbaren Erleben der Betroffenen eine höhere Relevanz beimessen, indem zum Beispiel patientenberichtete Endpunkte (sogenannte „patient-reported outcomes“, PROs) stärker in den Fokus gerückt werden. Von der Arbeitsgruppe wurden Empfehlungen zur Verbesserung von klinischen Studien zu MS entwickelt. Hierbei gingen auch die Erkenntnisse mit ein, die in der MS Initiative gesammelt werden konnten. Es wurde deutlich, dass es für Betroffene insbesondere wichtig ist, ob sich Symptome wie Fatigue, Depression, kognitive Beeinträchtigungen, Schmerzen, Spastik, Schlafstörungen oder der Verlust der Sehkraft verstärken. Diese und andere patientenrelevante Endpunkte müssten in Studien stärker berücksichtigt werden. „Mit unseren Empfehlungen wollen wir einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit MS leisten“, sagt Sinje Gehr, Projektleiterin der Charité MS Initiative. Prof. Dr. Friedemann Paul, Wissenschaftlicher Direktor des Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Einrichtung von Charité und Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin (MDC), betont: „Wenn wir die Studien in Zukunft so konzipieren, dass sie sich stärker an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren, erhalten wir Studienergebnisse, die uns eher in die Lage versetzen, die Patientinnen und Patienten zielgerichteter und individualisiert medizinisch zu versorgen.“ Darüber hinaus fehlten meist methodisch fundierte Daten zu langfristigen Nebenwirkungen oder Nutzen der Arzneimittel, weil diese überwiegend nur in ein- bis zweijährigen Zulassungsstudien untersucht wurden.

Mit der MS Initiative ist es gelungen, die relevanten Stakeholder bei klinischen MS-Studien an einen Tisch zu bringen, so dass unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven ausgetauscht werden konnten. Solche Austauschformate können einen wertvollen Beitrag dazu leisten, die biomedizinische Forschung patientenrelevanter zu gestalten. Der jetzt im EPMA Journal veröffentlichte Artikel zeigt die Ergebnisse dieser mehrjährigen intensiven Zusammenarbeit.

Referenzen:

(1) Gehr S, Kaiser T, Kreutz R, Ludwig WD, Paul F: Suggestions for improving the design of clinical trials in multiple sclerosis — results of a systematic analysis of completed phase III trials. EPMA Journal (2019) 10: 425. doi.org/10.1007/s13167-019-00192-z.