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Eva Holzhäuser
Lieber Thomas, unser Gespräch dreht sich heute rund um das Thema Mindset. Was bedeutet das Wort für dich?

Thomas Gazlig
Für mich stellt der Begriff Mindset das gesamte Denken, die Überzeugungen und das Verhalten eines Menschen dar. Wenn wir in die Forschung schauen, ist das Mindset sehr stark auf die Darstellung von Forschungserkenntnissen, auf Publikationen und das Beschaffen von Drittmitteln ausgerichtet. Es orientiert sich meist nicht am möglichen Impact, also an der Wirkung, die Forschungsergebnisse auf Gesellschaft und Wirtschaft ausüben können. Dabei geht es in unserer Forschung ganz wesentlich darum, einen Patient*innennutzen zu erzielen. Damit das geschieht und am Ende viele Patientinnen und Patienten von einem Ergebnis profitieren, brauche ich Zugang zum Markt und Partner aus der Industrie als Wegbereiter. Es geht nicht darum, nur einem Patienten oder einer Patientin zu helfen, sondern vielen. Es muss gelingen in die Standardversorgung der Medizin zu kommen und das bedeutet, ich muss ein Produkt auf den Markt bringen. Unsere Aufgabe im Technologietransfer ist es, hier eine Brücke zwischen Forschung und Wirtschaft zu schlagen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass Charité und BIH bei einem möglichen wirtschaftlichen Erfolg auch fair und angemessen davon profitieren. Schließlich hat die öffentliche Hand viel in die entsprechende Forschung investiert; davon soll auch etwas zurückfließen und in neue Entwicklungsprojekte investiert werden.

Eva Holzhäuser
Wie schätzt du den Ist-Zustand in der Forschung ein und in welche Richtung muss es gehen, um den Transfer zu stärken? Kannst du das noch etwas näher erläutern?

Thomas Gazlig
Insgesamt muss man leider feststellen, dass die akademische Forschung in Deutschland sich nur wenig für gesellschaftlichen Impact und den Transfer in die Wirtschaft interessiert. Es spielt auch für die Karriere der meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler keine große Rolle. Deren Erfolge werden vor Allem daran gemessen, wie gut man publiziert hat und wie viele und welche Drittmittel man eingeworben hat. Wenn wir hier etwas ändern wollen, geht das nur, wenn Transfererfolge Teil des akademischen Belohnungs- und Anerkennungssystems werden.

Eva Holzhäuser
Gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung?

Thomas Gazlig
Das würde ich gar nicht differenzieren. Es geht auch bei dem Thema Mindset nicht darum, die Forschung zu verändern. Die Forschung soll bleiben, wie sie ist. Klinische Forschung hat ihre Besonderheiten und Grundlagenforschung auch. Was ich meine, und darauf kommt es an: Wir müssen den Umgang mit den Ergebnissen ändern. Wir müssen jedes Ergebnis dahingehend überprüfen, ob es ein so genanntes gold nugget sein kann. Ein gold nugget im Sinne von "das ändert die Art und Weise, wie wir Patient*innen behandeln" und wirtschaftliches Wachstum sichern. Das gehört mit zur gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Wenn ich etwas entdeckt habe, das Millionen von Patient*innen helfen könnte, gehört es zu meiner Pflicht, mir darüber Gedanken zu machen, wie es in der Versorgung ankommen kann. Es reicht nicht aus, sich auf die nächste Publikation zu konzentrieren und danach ist Schluss. Wir müssen einen Schritt weitergehen und Erkenntnisgewinn und Anwendung gleichzeitig denken. Das muss sich in Deutschland ändern.

Eva Holzhäuser
Gibt es neben den bisher genannten Problemen noch weitere Standards in der Wissenschaft, die deiner Meinung nach besonders hinderlich für den Transfer sind?

Thomas Gazlig
Es ist zunächst überwiegend die fehlende Anerkennung. Das ist der Faktor, der die intrinsische Motivation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beeinflusst. Und das beeinflusst wiederum, wie groß der Pool an Ideen ist, den ich habe. Das ändert sich gerade, aber leider sehr langsam. Deswegen ist es wichtig, dass die Leute folgendes mitbekommen: Man kann in jeder Phase zu uns kommen. Viele Kolleginnen und Kollegen kommen leider zu spät. Es passiert immer wieder, dass uns jemand kontaktiert und sagt: Hier ist meine Publikation, ich würde das gerne patentieren. Das geht zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr. Aus diesem Grund haben wir ein neues Instrument geschaffen: Das Idea Office. Hier kann ich mit einer Idee in jedem Stadium kommen und mich erkundigen: Ist das etwas, was man schützen kann oder sollte? Macht es Sinn hier auszugründen? Ist das etwas für die Pharmaindustrie? Es ist wichtig, sehr früh mit uns in den Dialog zu treten. Oft muss an den Ergebnissen noch weiter gearbeitet werden. Aber das ist okay, dann treffen wir uns in ein paar Monaten wieder. Wichtig ist es, früh zu überlegen, was die nächsten Schritte sind, damit man nicht in die falsche Richtung läuft. Der zweite Hebel ist die Vereinfachung von Prozessen: Wir müssen schneller, mutiger und weniger komplex werden. Deswegen führen wir zum Beispiel Standard Spin-Off-Terms ein. Das wird für mehr Transparenz sorgen, Ausgründungsprozesse beschleunigen und die Interessen aller Beteiligten sichern.

Eva Holzhäuser
Es ist problematisch, dass ein Großteil der Forschenden davon überhaupt nichts weiß. Es wäre absolut sinnvoll, solche Themen schon in der universitären Lehre zu vermitteln z.B. in Form eines Seminares für Master- und PhD-Studierende. Weißt du, ob es hierzu Pläne gibt?

Thomas Gazlig
Wir haben erste Gespräche geführt. Es ist aber nicht so einfach, diese Themen z.B. in das Medizinstudium einzubauen. Es ist auch nicht damit getan, ein freiwilliges Zusatzangebot zu schaffen. Wir haben eine merkwürdige Ambivalenz in Deutschland: Einerseits brauchen wir die Industrie, um tatsächlich Medikamente auf den Markt und damit in die Patient*innenversorgung zu bringen. Andererseits ist es in der akademischen Welt viel weniger angesehen, zu eng mit der Industrie zusammenzuarbeiten. Das müssen wir ändern. Wir müssen offener werden, und zwar auf allen Ebenen. Man sollte solche Kurse zu einem Pflichtteil des Studiums machen. Dazu braucht es nicht viel. Wir haben zum Beispiel einen Kurs zum Thema Patente für die Online-Fortbildungsplattform von Charité und BIH erstellt. Der Kurs dauert knapp dreißig Minuten. Wenn zusätzlich jeder Studierende ab und zu etwas zu den Grundlagen des Transfers und der Marktmechanismen mitbekommt, hätten wir schon viel gewonnen. Wir stellen in Gesprächen mit interessierten Kolleginnen und Kollegen immer wieder fest, dass man sehr wenig Verständnis für die Mechanismen der Märkte hat. Beispielhaft dafür ist eine Aussage, die ich immer wieder höre: „Ich habe die Ergebnisse publiziert und nicht patentiert, damit alle davon profitieren können.“ In der Realität ist leider das Gegenteil der Fall: Das Ergebnis wird nie bei Patient*innen ankommen, weil man es nicht mehr schützen kann und sich keine Industriepartner*innen finden werden, welche die erheblichen Investitionen vornehmen. Diese Mechanismen muss man kennen, um einen Nutzen für die Patient*innen erzielen zu können.

Eva Holzhäuser
Du hast nun schon mehrfach von Patentierung gesprochen. Forschende müssen also nicht zwingend ein Unternehmen gründen, um ihr Produkt auf den Markt zu bringen. Welche Alternativen gibt es?

Thomas Gazlig
Es gibt zwei wesentliche Verwertungswege. Die Ausgründung ist nur eine Option. Hier nutzen Wissenschaftler*innen geistiges Eigentum der Charité und gründen auf dieser Grundlage ein eigenes Unternehmen. In Anlehnung an international übliche Modelle nehmen Charité oder BIH eine kleine gesellschaftliche Beteiligung (mittelbar über unseren Verwertungsdienstleister). Dazu wird ein exklusiver Lizenzvertrag abgeschlossen. Das ist auch angemessen, denn das geistige Eigentum gehört schließlich der öffentlichen Wissenschaftseinrichtung und die Bildung und Infrastruktur, in der solche Ideen entstehen können, sind größtenteils aus Steuergeldern finanziert. Der zweite mindestens ebenso wichtige Weg ist die Lizenzierung an bestehende Unternehmen.

Eva Holzhäuser
Was versteht man denn unter dem Begriff Knowledge Valorisation? Warum und für wen ist das wichtig?

Thomas Gazlig
Der Begriff sollte für uns alle wichtig sein. Sowohl Deutschland, als auch der Rest von Europa sind ein eher rohstoffarmer Raum. Deshalb wirbt zum Beispiel die Europäische Kommission sehr stark für diesen Ansatz. Knowledge Valorisation bedeutet, dass wir die Ergebnisse aus unserer Forschung, also unser Wissen nutzbar machen und damit gesellschaftliche und wirtschaftliche Wertschöpfung erzielen. Das können z. B. Daten sein, Know-how oder geschützte Forschungsergebnisse. Das können aber auch einfach gute Ideen sein. Mir gefällt der Begriff, und ich finde ihn auch treffender als Technologietransfer, der doch relativ eng gefasst ist.

Eva Holzhäuser
Kannst du erklären, was Innovationsscheine sind?

Thomas Gazlig
Innovationsscheine sind bisher noch eine Idee. Eine Fortbildung von drei bis vier Stunden hätte bereits einen großen Effekt. Anschließend können die Teilnehmenden zeigen, dass sie sich mit dem Thema beschäftigt haben. Sie kennen die wesentlichen Grundlagen und bekommen dafür ein Zertifikat. Solche Weiterbildungen werden sicherlich zu einem Vorteil für die persönliche Karriere. Das Thema Transfer wird in den nächsten 10 Jahren stark an Bedeutung gewinnen. Es wird bald dazugehören, eine Fortbildung im Bereich Innovation und Entrepreneurship zu machen. Ein Innovationsschein könnte ein erster Startpunkt sein.

Eva Holzhäuser
Eine Art Führerschein für die Translation.

Thomas Gazlig
Genau, ein Führerschein für den Transfer oder auch für die Knowledge Valorisation. Ich vermeide hier bewusst den Begriff Translation, da ich festgestellt habe, dass jede*r etwas Anderes darunter versteht. Damit werde ich nicht zur Technologiemanager*in oder Patentexpert*in, und das ist auch gar nicht notwendig. Dafür gibt es unser Team, das die Forschenden unterstützt. Wissenschaftler*innen schreiben auch keine Patente. Das tun wir gemeinsam mit spezialisierten Patentanwält*innen. Die Forschenden bringen die Ideen mit. Je besser sie wissen, worauf es später ankommt, umso größer sind die Chancen, dass die Idee tatsächlich am Ende zu einem Produkt oder zu einer neuen Dienstleistung wird.

Eva Holzhäuser
Jetzt haben wir die Probleme in Deutschland beleuchtet. Es gibt aber auch andere Länder, in denen es besser läuft. Was machen die richtig?

Thomas Gazlig
Wenn man sich die großen Start-up Nations anschaut, insbesondere USA, Großbritannien und Israel, stellt man fest, dass der Transfer dort Teil des akademischen Lebens ist. Wenn ich dort eine Firma ausgegründet habe, gratulieren mir alle zu meinem Erfolg. In Deutschland werde ich eher mit schrägem Blick angeschaut. Es gibt dort ein ganz anderes Verhältnis zu Werten und zum Geldverdienen. Man freut sich über wirtschaftlichen Erfolg. Man teilt diesen auch gerne mit den Einrichtungen und gibt etwas zurück. Üblich ist eine Kombination aus einer Beteiligung und einem Lizenzvertrag. Das ist Standard und wird auch nicht hinterfragt. In Deutschland haben wir immer wieder ähnliche Diskussionen: Wieso soll die öffentliche Hand etwas zurückbekommen? Dabei ist das sehr wichtig. Bei Allem, was potenziell wirtschaftlichen Erfolg hat, braucht man eine faire und angemessene Partizipation von allen Akteur*innen. Bei einer Ausgründung sind das natürlich die Gründer*innen. Aber es sind auch die wissenschaftlichen Einrichtungen, ohne die das Ganze gar nicht erst möglich ist. Denn diese stellen zum Beispiel das Geistige Eigentum, die Infrastruktur und Forschungsmittel zur Verfügung. All das trägt zu dem Prozess bei. In den Start-up Nations ist dieses Miteinander Gang und gäbe. Dort spielt der Technologietransfer innerhalb der Wissenschaftseinrichtungen eine viel größere Rolle. Eine vergleichbare Einrichtung, wie die Charité, hat dort das zehnfache Patentbudget und es arbeiten zehnmal so viele Menschen im Technologietransfer. Dementsprechend können sie einen ganz anderen Service bieten und den Transfer schneller verwirklichen. Hinzu kommt noch etwas anderes: Öffentlicher Dienst und Innovationsgeschehen sind in Deutschland zwei Welten, die nicht immer Hand in Hand gehen. Wir bewegen uns hier oft in Graubereichen: Die Wissenschaftler*innen gründen aus, sind aber noch in der akademischen Welt behaftet. Daraus entstehen Compliance-Themen und Diskussionen über Geldflüsse. Das ist eine komplexe Gemengelage, die in öffentlichen Einrichtungen so nicht vorgesehen ist. In den oben genannten Ländern sind sie ein Stück weiter und haben Mechanismen und Instrumente, damit Verwertungsprozesse schneller ablaufen.

Ich glaube, was man jeder und jedem sagen kann, ist: Lasst euch nicht abschrecken, sondern nehmt frühzeitig Kontakt mit uns auf. Wir überlegen dann gemeinsam, wie man aus der Idee ein interessantes Produkt machen kann, das am Ende vielen Patient*innen helfen kann. Und noch ein wichtiger Punkt: Wenn wir über Translation reden, bedeutet das, dass am Ende aus Forschung Gesundheit wird gemäß dem BIH-Motto. Das gelingt nur, indem ich die Transferprozesse von Anfang an mitdenke und zwar so früh wie möglich. Ohne einen erfolgreichen Transfer wird ein Translationsprozess niemals abgeschlossen sein.

Eva Holzhäuser
Das ist ein wunderbares Schlusswort. Ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch und deine Zeit.