Wer den Verlauf von Infektionen mit SARS-CoV-2 günstig beeinflussen will, braucht Informationen über die Frühphase der Erkrankung. Untersuchungen an Patient*innen, die bereits an COVID-19 erkrankt sind, greifen hier zu spät. Am Tiermodell dagegen lässt sich kontrolliert verfolgen, was ab der Infektion geschieht. „Mittels Einzelzell-RNA-Analysen können wir die Genexpression in vielen einzelnen Zellen erfassen und die molekularbiologischen Vorgänge im Infektionsverlauf beobachten“, erklärt Dr. Samantha Praktiknjo, Forscherin am Berlin Institute of Health in der Charité und Letztautorin einer gerade veröffentlichten Studie, an der Wissenschaftler*innen von BIH, Max Delbrück Center, Charité – Universitätsmedizin Berlin und Freier Universität Berlin beteiligt waren.
„Unsere Studie zeigt, wie leistungsstark die Kombination von Einzelzelltechnologien und modernster bioinformatischer Analyse ist, um komplexe Krankheiten wie die massiven Lungenentzündungen bei COVID-19 zu erforschen“, sagt Professor Markus Landthaler, Forschungsgruppenleiter am Max Delbrück Center und ebenfalls Letztautor der Studie in „Cell Reports“.
Einzelzellsequenzierungen von Lungenproben
Die Wissenschaftler*innen haben verfügbare Humandaten, die durch Analysen von bronchoalveolärer Flüssigkeit und Nasenabstrichen sowie Post-mortem-Untersuchungen der Lunge gewonnen wurden, systematisch mit den am Tiermodell gewonnenen Daten abgeglichen und ihre Relevanz für den Menschen überprüft. Als Tiermodell für COVID-19 haben sich Hamster als geeignet erwiesen, da sie mit denselben Varianten des Coronavirus infiziert werden können wie der Mensch und ein ähnliches Krankheitsbild zeigen. Per Einzelzell-RNA-Sequenzierung untersuchten die Forscher*innen Lungenbiopsien von gesunden und infizierten Tieren zu verschiedenen Zeitpunkten nach der Infektion. Sie verglichen die dynamischen zellulären und molekularen Prozesse bei zwei verschiedenen Hamsterspezies: beim Goldhamster, der milde COVID-19-Verläufe zeigt, und beim Roborovski-Zwerghamster, bei dem die Erkrankung regelhaft schwer verläuft.
Mittels Einzelzell-RNA-Sequenzierung lässt sich herausfinden, welche Abschnitte der Erbinformation die jeweiligen Zellen zum Zeitpunkt der Entnahme gerade aktiviert haben. Dies ermöglicht einen Überblick darüber, was in den verschiedenen Zellen einer Gewebeprobe geschieht.
Die Forschung der letzten Jahre hat ergeben, dass für schwere Verläufe der COVID-19-Infektion nicht allein die Aggressivität des Virus verantwortlich ist. Auch Entzündungsreaktionen des Wirtsorganismus spielen eine Rolle. Entzündungen sind für die Erregerabwehr nötig und ganz normal. Aber wenn die Entzündung überschießt und große Mengen an entzündungsfördernden Botenstoffen freigesetzt werden, entstehen Schäden an unterschiedlichen Organen.
Frühe Weichenstellung für schweres COVID-19
Unbeantwortet war bislang die Frage, wie und wann genau die Weichenstellung für den schweren Krankheitsverlauf erfolgt. „Mit Hilfe tiefergehender Einzelzell-RNA-Analysen und neuartiger Methoden des maschinellen Lernens war es uns möglich, die Zellaktivitäten von der Infektion an zu charakterisieren“, erläutert BIH-Forscherin Dr. Samantha Praktiknjo. Tatsächlich konnten die Wissenschaftler*innen am Tiermodell zwei unterschiedliche Muster der Genaktivierung identifizieren. Sowohl bei leichten als auch bei schweren COVID-19-Verläufen werden kurz nach der Infektion die neutrophilen Granulozyten auf den Plan gerufen, die zur ersten Abwehrlinie der angeborenen Immunantwort gehören. Bei milden Verläufen werden die Neutrophilen kurz aktiviert. Dann jedoch übernehmen andere Immunzellen wie die natürlichen Killerzellen (Typ-1-Immunantwort). Bei schweren Verläufen dagegen bleiben die Neutrophilen dauerhaft im Action-Modus (Typ-3-Immunantwort). Das führt zu einer Überflutung mit proinflammatorischen Signalen und in der Lunge zu massiven Entzündungsreaktionen.
Typisch für schwere COVID-19-Verläufe sind Schäden an der Auskleidung der Blutgefäße, dem Endothel, an unterschiedlichen Organen. Die Forscher*innen stellten bei beiden Hamsterarten eine starke Aktivierung des Gefäßendothels der Lunge fest, die proinflammtorische Signale der neutrophilen Granulozyten ausgelöst hatten. Beim Roborovski-Hamster resultierten daraus schwere Endothelschäden; beim Goldhamster dagegen kehrten die Endothelzellen in den Ruhemodus zurück, ohne großen Schaden genommen zu haben. „Mit unserer Methodik haben wir die tragende Rolle der Endothelzellen im Krankheitsverlauf erstmals dokumentieren können“, unterstreicht Dr. Stefan Peidli, einer der Erstautor*innen der Studie.
„Unsere Studien bestätigen und erweitern die Erkenntnisse zur Rolle überschießender Immun- und Entzündungsreaktionen bei COVID-19“, ergänzt Dr. Samantha Praktiknjo. „Wir werden weiter in diese Richtung forschen und hoffen, dabei Ansatzpunkte für innovative Therapien zu finden, mit denen sich das Infektionsgeschehen frühzeitig in die richtigen Bahnen lenken lässt.“