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Interview mit Tobias Wollersheim und Steffen Weber-Carstens

Im April erhielten Tobias Wollersheim, Steffen Weber-Carstens und ihr Team die Auszeichnung Paper of the Month. Wir haben mit ihnen über ihre Arbeit gesprochen:

In Ihrer Arbeit beschäftigen Sie sich mit dem Muskelverlust von Patienten auf der Intensivstation. Um welche Patienten handelt es sich dabei?

Grundsätzlich können alle intensivmedizinisch betreuten Patienten von einer Muskelschwäche mit Muskelabbau betroffen sein. Jedoch sind Patienten, die künstlich beatmet werden müssen und besonders diejenigen Patienten, die eine systemische Infektion im Sinne einer Blutvergiftung erleiden, einem besonderen Risiko ausgesetzt. Wenn mehrere Organe wie z.B. Lunge, Gehirn oder Leber ausgefallen sind, geht dies gehäuft auch mit einer Schädigung des Organs Muskel einher. In unserer Studie fokussieren wir uns auf diese am schwersten betroffenen Patienten.

Warum verlieren die Patienten Muskeln?

Vollständig können wir diese Frage nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft nicht beantworten. Es gibt mehrere Faktoren, die in Kombination zu einem dramatischen Funktions- und Massenverlust der Muskulatur führen können. So tragen sicherlich die Inaktivität durch Bettruhe, der durch Entzündungsmechanismen angestoßene Proteinabbau, sowie ein Funktionsverlust von Ionenkanälen in der Muskelzellmembran zum Muskelabbau und Funktionsverlust bei. Dabei werden dem Proteinabbau der Muskulatur, der Aminosäuren ins Blut freisetzt, durchaus auch nützliche Aspekte zugesprochen, da sie so an anderer Stelle des Körpers zum Aufbau von z.B. benötigten Abwehrstoffen zur Verfügung stehen.

Und wie haben Sie interveniert?

Unsere Intervention setzte sich aus zwei Teilen zusammen; erstens einer Physiotherapie, die nach einem klaren und ehrgeizigen Protokoll abgehalten wird, und zweitens einer frühen Muskel-aktivierenden Maßnahme. Die Protokoll-basierte Physiotherapie beginnt dabei mit einer morgendlichen Visite mit allen Berufsgruppen, die an der täglichen Behandlung des Patienten beteiligt sind, also Ärzten, Krankenpfleger*innen, Physiotherapeut*innen und Atmungstherapeut*innen. Das Ziel dieser Visite ist es zu diskutieren, welche Form und Intensität der Mobilisation unter Berücksichtigung des aktuellen medizinischen Zustands möglich ist und diese in einem Mobilisationsziel zu definieren. Es wird darüber hinaus während der Visite ein Konzept erstellt, wie dieses Ziel im Tagesverlauf erreicht werden kann. Somit können wir eine individualisierte und daher optimale Mobilisation auf einer täglichen Basis gewährleisten, die immer möglichst viele aktive Elemente vom Patienten selbst integriert.

Jedoch sind Ärzte in der Frühphase einer schweren Erkrankung oft dazu gezwungen, Patienten Bewusstseins trübende Medikamente zu verabreichen, die eine Teilnahme an aktiver Mobilisation verhindern. Wir haben daher zwei Muskel-aktivierende Maßnahmen, die elektrische Muskelstimulation und die Ganzkörpervibrationstherapie, in unser Therapiekonzept mit aufgenommen, da beide ohne aktive Mitarbeit der Patienten zu Muskelkontraktion führen können. Ziel ist es, so der Inaktivität der Muskulatur durch die von außen hervorgerufenen Muskelkontraktionen entgegenzuwirken, und somit dem raschen Verlust an Muskelmasse in der Frühphase der kritischen Erkrankung entgegenzuwirken. Unsere Patienten haben alle eine protokollbasierte Physiotherapie und je nach Behandlungsgruppe entweder keine, eine oder beide Muskel-aktivierenden Maßnahmen erhalten.

Was kam heraus? 

Wir konnten beobachten, dass durch die frühe Protokoll-basierte Physiotherapie und noch ausgeprägter durch die Kombination aus früher Protokoll-basierter Physiotherapie mit der Muskel-aktivierenden Maßnahme der Muskelmassenverlust deutlich reduziert werden konnte. Spannend dabei ist, dass ein vermehrter Muskelaufbau geschieht, der einem erhöhten Muskelabbau entgegentritt. In Summe führt dieses veränderte Gleichgewicht zu einem Erhalt der Muskelmasse. Leider zeigt sich trotz der erhaltenen Muskelmasse kein Erhalt der Muskelfunktion, gemessen als Muskelkraft oder auch Ausdauerleistung. Diese Entkoppelung von Muskelmasse und Muskelkraft ist dabei ein Phänomen, welches sich in mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Zeit offenbart hat und deren Ursache noch nicht geklärt werden konnte. Ob die verbesserte Muskelmasse jedoch im Langzeitverlauf zu einem verbesserten Erholungspotential der Muskulatur führen kann, ist zu hoffen, bleibt jedoch derzeit noch unklar.

Sie haben auch Untersuchungen auf molekularer Ebene durchgeführt, was haben Sie gefunden?

Ein Alleinstellungsmerkmal unserer Studie ist, dass wir die präzise klinische Charakterisierung unserer Patienten kombiniert haben mit aufwendigen molekularen Analysen aus offen chirurgischen Muskelbiopsien. Aus den Muskelproben können wir Rückschlüsse auf die Größe der Muskelfasern ziehen und die dafür verantwortlichen Mechanismen untersuchen. So konnten wir nur durch die molekularen Analysen herausfinden, dass der Muskelabbau trotz Physiotherapie und Muskelstimulation weiter stattfindet, jedoch gleichzeitig vermehrt Muskelprotein neu gebildet wird und das für den Erhalt der Gesamtmasse verantwortlich scheint.

Wie geht es jetzt weiter?

Natürlich wollen wir nicht nur die Muskelmasse erhalten, sondern auch die Muskelfunktion verbessern. Wir haben während der Studie zwei spannende Phänomene beobachtet. Zum einen hat sich gezeigt, dass die Muskelkraft und die Muskelmasse nicht unmittelbar miteinander zusammenhängen. Wir vermuten, dass die Bereitstellung von Energie durch die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle, gestört sein könnte. Dies wollen wir nun gerne auf molekularer Ebene untersuchen.

Zum anderen hat sich gezeigt, dass nicht alle Patienten gleichermaßen auf die elektrische Muskelstimulation reagieren. Während sich bei manchen Patienten eine sehr gute Kontraktion bei niedrigen Stromstärken zeigt, kommt es bei anderen Patienten auch bei sehr hohen Stromstärken zu keiner sichtbaren Muskelkontraktion. Wir wollen nun gerne untersuchen, worauf dieses Phänomen basiert, ob es frühe Anzeichen für ein gutes bzw. schlechtes Ansprechen auf die elektrische Muskelstimulation gibt und wie relevant das Ansprechen für das klinische Behandlungsergebnis ist. Dazu werten wir derzeit die bereits erhobenen Daten noch einmal vertieft aus, und bereiten gleichzeitig eine neue Studie vor.