Zum Seiteninhalt springen

Unser Blut erneuert sich ständig. In jeder Sekunde fließen ihm Millionen neuer Zellen zu, die absterbende Blutkörperchen ersetzen. Sie entspringen aus hämatopoetischen (blutbildenden) Stammzellen im Knochenmark und reifen dann Schritt für Schritt über mehrere Vorläuferstufen aus. Dabei werden traditionell vier große Entwicklungslinien unterschieden: Die erste Linie produziert die roten Blutkörperchen, die den Sauerstoff transportieren. Die zweite liefert die Thrombozyten, die Blutungen stoppen und Wunden heilen lassen. In der dritten Linie entwickeln sich die weißen Blutkörperchen, die die Zellen der angeborenen Immunabwehr bilden, wie beispielsweise die Granulozyten, und in der vierten Linie entstehen die B- und T-Zellen, auf deren Einsatz unsere im Infektionsfall erworbene Immunabwehr gründet. Je weiter die Forschung voranschritt, desto undeutlicher ließen sich diese Linien jedoch gegeneinander abgrenzen.

Die hämatopoetischen Stammzellen wurden 1961 entdeckt, was in den 1970-er Jahren zu Knochenmarkstransplantationen führte, mit denen bestimmte Formen von Blutkrebs behandelt werden. Weil dazu zuvor die patienten-eigenen Blutstammzellen mit Strahlen- oder Chemotherapie zerstört werden, konnte man nun sehr gut beobachten, wie sich transplantierte Zellen im Organismus des Empfängers verhalten. Daraus gewannen Wissenschaftler*innen viele neue Erkenntnisse darüber, wie das Blut gebildet wird.

Zellkraftwerke verraten den Ursprung der Blutzellen

Allerdings waren die Ergebnisse nur eingeschränkt aussagekräftig, denn die transplantierten Stammzellen waren ja zuvor ihrem natürlichen Zusammenhang entrissen worden. Mit Hilfe von genetischen Markern gelang es seit den 1980er Jahren, die Entwicklung von Blutzellen auch in ihrem natürlichen Kontext im gesunden Organismus zu erforschen. Dieses sogenannte Lineage Tracing wandten Forscher*innen in den folgenden Jahrzehnten mit immer größerer Präzision an – allerdings nur in Tierversuchen, denn es verbietet sich von selbst, Menschen mit künstlichen genetischen Markern auszustatten.

Im menschlichen Blut ist Lineage Tracing nur durch die Beobachtung natürlicher Mutationen in der DNA möglich, die nach einer Zellteilung in der einen Tochterzelle vorkommen, in der anderen aber nicht, und sich so nur in bestimmten Zellfamilien (Klonen) weiterverbreiten. In den 2010er Jahren wurde versucht, solchen Mutationen im gesamten Erbgut von Blutzellen auf die Spur zu kommen. Das ist aber angesichts der mehr als drei Milliarden „Buchstaben“ (Basenpaaren) unseres Erbguts trotz modernster Methoden sehr teuer und fehleranfällig.

Leif Ludwig verlegte sich daher auf den Nachweis natürlicher Mutationen in den Zellkraftwerken der Blutzellen, den Mitochondrien. Diese verfügen über ein eigenes, viel kleineres Erbgut von rund 16.600 Basenpaaren. Leif Ludwig verknüpfte deren Analyse mit den neuesten Einzelzell-Sequenzierungstechnologien (Single Cell-Omics) und konnte dadurch gleichzeitig Aussagen über den aktuellen Gesundheitszustand der untersuchten Zellen treffen. Inzwischen haben er und sein Team die von ihnen entwickelte Methode so verfeinert, dass sie in Knochenmarks- und Blutproben eines Patienten viele Zehntausende Zellen analysieren können.

Unübersichtliche Verwandtschaftsverhältnisse

Seit langem wird vermutet, dass die Blutstammzellen keine einheitliche Quelle sind, sondern vielmehr einen heterogenen Pool bilden, aus dem bei der unaufhörlichen Bildung neuen Blutes verschiedene, sich vielfältig verzweigende Entwicklungsflüsse entspringen. Aus einer Stammzelle könnten etwa nur Thrombozyten entstehen, aus einer anderen alle möglichen Blutzellen. Die Verwandtschaftsverhältnisse in unserem Blut sind also sehr unübersichtlich. Leif Ludwigs Analyseverfahren erlaubt nun, sie besser zu entwirren, um zum Beispiel zu erkennen, an welcher Abzweigung eine Leukämiezelle oder eine degenerative Veränderung entsteht. Es eröffnet der Humanmedizin erstmals die Möglichkeit, solche Untersuchungen in Zukunft im klinischen Alltag vorzunehmen und daraus therapeutische Konsequenzen abzuleiten. Beispielsweise um den Erfolg einer Stammzelltransplantation vorherzusagen oder auch Zellersatz- und Gentherapien gezielt zu verbessern.

Dr. rer. nat. Dr. med. Leif Si-Hun Ludwig studierte ab 2003 zunächst Biochemie an der Freien Universität Berlin, dann Humanmedizin an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Als Doktorand der Biochemie forschte er von 2011 bis 2015 am Whitehead Institute of Biomedical Research, als Post-Doc von 2016 bis 2020 am Broad Institute of MIT and Harvard, beide in Cambridge/USA. Seit November 2020 leitet er eine Emmy Noether-Forschungsgruppe im Bereich des gemeinsamen Forschungsfokus „Single-Cell-Ansätze für die personalisierte Medizin“ vom Berlin Institute of Health (BIH), dem Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin. 2021 erhielt Ludwig bereits den Hector Research Career Development Award.

Der Preis wird – zusammen mit dem Hauptpreis 2023 ­– am 14. März 2023 um 17 Uhr vom Vorsitzenden des Stiftungsrates der Paul Ehrlich-Stiftung in der Frankfurter Paulskirche verliehen.

Bilder des Preisträgers und ausführliche Hintergrundinformation „Was uns das Mitochondrium erzählt“ zum Download auf: www.paul-ehrlich-stiftung.de

3 + 2 Fragen an Leif Ludwig

Pressekontakt / Press contact

Katharina Kalhoff: +49 1515 7579574

Ole Kamm: +49 1522 5610126

Kontaktinformationen
E-Mail:pressestelle-bih@bih-charite.de