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Forscher*innen von der Rockefeller Universität und der Charité – Universitätsmedizin Berlin wiesen nach, dass Mäuse mit Genvarianten, die zuvor mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung gebracht wurden, ein höheres Sterberisiko hatten, wenn sie mit SARS-CoV-2 infiziert waren. Und eine retrospektive Analyse ergab, dass Patienten mit denselben Genvarianten während der gesamten Pandemie mit größerer Wahrscheinlichkeit an COVID-19 gestorben sind. Da drei Prozent der Weltbevölkerung diese Genvarianten besitzen, könnten die Ergebnisse Auswirkungen auf Hunderte von Millionen von Menschen weltweit haben.

"Es wurde bereits früh im Lauf der Pandemie festgestellt, dass mehrere Faktoren wie hohes Alter und männliches Geschlecht das Risiko für einen ungünstigen Verlauf der COVID-19-Erkrankung erhöhen. Allerdings erklären diese Faktoren nicht vollständig, warum Menschen so unterschiedlich stark von der Krankheit betroffen sind", sagt Benjamin Ostendorf, der Erstautor der Studie. "Dies ist das erste Mal, dass wir eine so häufige genetische Variante kausal mit der COVID-19-Sterblichkeit in Verbindung gebracht haben", fügt Sohail Tavazoie, der Letztautor der Studie und Laborleiter, hinzu. 

Ein genauerer Blick auf APOE

In früheren Arbeiten untersuchte Tavazoies Labor ein Gen namens APOE, das bei der Metastasierung von Krebs eine Rolle spielt. Nachdem die Wissenschaftler*innen nachgewiesen hatte, dass das Gen die Ausbreitung von Melanomen unterdrückt und die Immunreaktionen gegen Tumore reguliert, begannen er und sein Team, die verschiedenen Varianten oder Allele des Gens genauer zu untersuchen. Jeder Mensch besitzt zwei Kopien der APOE-Gene, eines von der Mutter, eines vom Vater. Die meisten Menschen tragen auf beiden Chromosomen eine Form namens APOE3, 40 Prozent der Bevölkerung tragen mindestens eine Kopie der Variante APOE2 oder APOE4. Personen mit APOE2 oder APOE4 produzieren Proteine, die sich vom APOE3-Protein um eine oder zwei Aminosäuren unterscheiden.

Eine oder zwei Aminosäuren machen einen Unterschied. Menschen mit zwei Kopien von APOE4 haben ein höheres Risiko, an Alzheimer und Atherosklerose zu erkranken. Tavazoie und Benjamin Ostendorf, damals Postdoktorand in seinem Labor und heute Fellow im Digital Clinician Scientist Program von Charité und BIH, konnten zeigen, dass APOE4 und APOE2 die Immunantwort gegen Melanome beeinflussen. Mit dem Fortschreiten der Pandemie fragten sich Tavazoie und Ostendorf, ob die verschiedenen APOE-Varianten auch den Verlauf der COVID-19-Erkrankungen beeinflussen könnten. "Wir hatten bis dahin nur nicht-infektiöse Krankheiten untersucht", sagt Tavazoie. "Aber was wäre, wenn APOE-Varianten die Menschen auch anfällig für einen Infektionserreger wie SARS-CoV-2 machen würden? Könnten sie unterschiedliche Immunreaktionen gegen ein Virus hervorrufen?"

Höhere Sterbewahrscheinlichkeit durch zwei veränderte Aminosäuren

Um das herauszufinden, setzten die Forscher zunächst mehr als 300 Mäuse, die mit menschlichem APOE ausgestattet waren, einer an die Maus angepassten Version von SARS-CoV-2 aus. Sie stellten fest, dass Mäuse mit APOE4 und APOE2 mit größerer Wahrscheinlichkeit starben als solche mit dem häufigeren APOE3-Allel. "Die Ergebnisse waren verblüffend", sagt Ostendorf. "Ein Unterschied von nur ein oder zwei Aminosäuren im APOE-Gen reichte aus, um große Unterschiede im Überleben von Mäusen mit COVID-19 zu verursachen."

Bei Mäusen mit APOE2 und APOE4 zeigten sich größere Virusmengen in der Lunge, und es gab verstärkte Anzeichen für Entzündungen und Gewebeschäden. Auf zellulärer Ebene stellten die Forscher fest, dass APOE3 die Menge des in die Zelle eindringenden Virus zu verringern schien, während Tiere mit den anderen Varianten eine weniger starke Immunantwort auf das Virus zeigten. "Zusammengenommen deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass der APOE-Genotyp den COVID-19-Krankheitsverlauf auf zwei Arten beeinflusst", sagt Ostendorf, "indem er zum einen die Immunantwort moduliert und zum zweiten beeinflusst, mit welcher Effizienz SARS-CoV-2 Zellen infiziert."

Kein Grund zur Panik

In einer Analyse von 13.000 Patient*innen in der britischen Biobank fanden die Forscher*innen ihre Ergebnisse aus den Mausstudien bestätigt: Personen mit zwei Kopien von APOE4 oder APOE2 starben mit größerer Wahrscheinlichkeit an COVID-19 als Personen mit zwei Kopien von APOE3. (Etwa drei Prozent der Menschen haben zwei Kopien von APOE2 oder APOE4, das sind schätzungsweise 230 Millionen Menschen weltweit.) 

Tavazoie betont jedoch, dass nun niemand mit dieser Allel-Konstellation in Panik verfallen müsse: "Die Impfung verändert das Bild", erklärt er. "Die Daten in der UK Biobank erstrecken sich über die gesamte Dauer der Pandemie, und viele der Personen, die früh starben, wären wahrscheinlich geschützt gewesen, wenn sie geimpft worden wären".

Für die Zukunft hofft Tavazoie auf prospektive Studien über den Zusammenhang zwischen APOE und den verschiedenen COVID-19-Folgen. "Wir haben den ersten Schritt getan", sagt er. "Aber um klinisch von Bedeutung zu sein, müssten diese Ergebnisse in prospektiven Studien bewertet werden: Personen müssten auf ihre APOE-Genotypen und ihren Impfstatus überprüft werden, was zu Beginn der Pandemie nicht möglich war."

Die Rolle der Genvariation bei der Immunität

Benjamin Ostendorf, der die Studie vollendet hat, während er gleichzeitig eine Max-Eder-Forschungsgruppe für Systemische Krebsimmunologie an der Charité - Universitätsmedizin Berlin und dem Max-Delbrück-Zentrum aufgebaut hat, plant nun, die Rolle von genetischer Variation in der Krebstherapie genauer zu untersuchen. "Die Immuntherapie hat bei einigen Krebspatienten enorme Erfolge gezeigt", sagt Ostendorf. "Wir sehen langfristige Remissionen bei Menschen, die ihren Krebs vor einigen Jahren noch nicht überlebt hatten. Aber noch immer profitiert leider nur eine Minderheit der Patienten von der Immuntherapie. Wir glauben, dass die genetische Veranlagung eine bislang unterschätzte Rolle dabei spielt, wie wir auf eine Immuntherapie ansprechen. Das würden wir gerne besser verstehen", umreißt er seine Forschungsabsichten.

Publikation: Nature: Common germline genetic variants of APOE impact COVID-19 mortality; Benjamin N. Ostendorf, Mira A. Patel, Jana Bilanovic, H. Heinrich Hoffmann, Sebastian E. Carrasco, Charles M. Rice, Sohail F. Tavazoie: https://doi.org/10.1038/s41586-022-05344-2

Konstanze Pflüger

Leitung Stabsstelle Kommunikation und Pressesprecherin

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