Maurice Raynaud hatte sich 1862 in Paris in seiner Doktorarbeit mit der so genannten Weißfingerkrankheit beschäftigt: 25 Betroffene, 20 Frauen und fünf Männer, zeigten bei Kälte die auffälligen Veränderungen an Fingern und Zehen, die teilweise bis zum Absterben der Glieder führten.
„Das passiert heute zum Glück nur noch ganz selten“, sagt Dr. Maik Pietzner, Gruppenleiter in der AG Computational Medicine am BIH. „Aber das Verhältnis vier zu eins zwischen Frauen und Männern und die beschriebenen Symptome stimmen nach wie vor. Und weil so viele Menschen davon betroffen sind und es nach wie vor keine wirklich wirksame Behandlung gibt, haben wir versucht, die genetische Ursache des Raynaud-Syndroms zu finden.“
Daten von 5.000 Betroffenen in der UK Biobank
Bei der Suche nach den genetischen Ursachen von Krankheiten hat den Wissenschaftler*innen um Maik Pietzner und Professorin Claudia Langenberg, die die AG Computational Medicine am BIH leitet und gleichzeitig Direktorin des neugegründeten Instituts für Präzisionsmedizin an der Queen Mary University in London, UK, ist, schon oft der Blick in die UK Biobank geholfen. „Hier sind nicht nur die genetischen Informationen von 500.000 Teilnehmer*innen hinterlegt, sondern auch deren Krankheitsgeschichten in Form von elektronischen Gesundheitsakten“, beschreibt Claudia Langenberg den großen Datenschatz. „So konnten wir die Daten von über 5.000 Betroffenen zusammenführen: Welche genetischen Auffälligkeiten finden wir, wann ist das Raynaud-Syndrom zum ersten Mal aufgetreten, unter welchen Begleiterkrankungen leiden die Personen?“
Blutgefäße zu stark verengt – zu langsam erweitert
Bei ihren Analysen stießen die Wissenschaftler*innen auf zwei Gene, die bei den von Raynaud Betroffenen häufiger verändert waren: Zum einen war das der alpha-2A-adrenerge Rezeptor für Adrenalin, ADRA2A, ein klassischer Stressrezeptor, der bewirkt, dass sich die kleinen Gefäße zusammenziehen. „Das ist auch sinnvoll bei Kälte oder Gefahr, da muss der Körper das Körperinnere mit Blut versorgen“, erklärt Maik Pietzner. „Bei Raynaud-Patientinnen und -Patienten ist er allerdings besonders aktiv, was vor allem in Kombination mit dem zweiten Gen, das wir gefunden haben, das Problem erklären könnte: Dabei handelt es sich um das Gen für den Transkriptionsfaktor IRX1, der die Fähigkeit zur Gefäßerweiterung regulieren könnte.“ Ist seine Produktion erhöht, können sich die verengten Gefäße nicht mehr so schnell entspannen. Das führt dann zusammen mit dem überaktiven Adrenalinrezeptor dazu, dass die Gefäße über längere Zeit nicht durchblutet sind, was zu den beobachteten weißen Fingern und Zehen führt.
Die Befunde der Wissenschaftler*innen helfen auch erstmals zu verstehen, warum die kleinen Gefäße auch scheinbar ohne äußeren Reiz, vor allem Kälte, bei Patient*innen so stark reagieren. Daraus ließen sich auch pragmatische Handlungsempfehlungen ableiten. So konnten die Wissenschaftler*innen zeigen, dass Menschen mit einer genetischen Neigung zu niedrigen Blutzuckerspiegeln ein erhöhtes Risiko für Raynaud’s Erkrankung haben und daher Patient*innenen eventuell längere Episoden mit niedrigen Blutzucker meiden sollten.
Teile Ihrer Befunde konnten Pietzner und Kolleg*innen zudem in der unabhängigen Genes & Health Studie replizieren, und so auch die Relevanz für ethnische Minderheiten, hier vor allem British Bangladeshi und Pakistani, zeigen.
Von Genen zu Medikamenten
„Unsere Ergebnisse passen zu den Beobachtungen“, sagt Claudia Langenberg. „Sie können gut erklären, warum die Blutgefäße der Raynaud-Betroffenen schnell eng und nur langsam wieder weit werden.“ Maik Pietzner ergänzt: „Sie erklären auch, warum viele bisher eingesetzte Medikamente nicht wirken: Sie richten sich gegen Mechanismen, die zwar oft die großen Gefäße weiten, aber scheinbar nicht die sehr kleinen Gefäße in unseren Händen und Füßen, die bei Patienten mit Raynaud betroffen sind“. Die Wissenschaftler*innen machen aber auch Hoffnung. So könnten bereits zugelassene Medikamente, die mehr oder weniger gezielt die Funktion von ADRA2A hemmen, eine Alternative darstellen, wie etwa das Antidepressivum Mirtazapine. „Ich bin überzeugt, dass man nun weitere wirksame Medikamente für die Betroffenen finden wird“, sagt Claudia Langenberg und ergänzt: „Unsere Studie zeigt eindrucksvoll, wie wertvoll Informationen aus elektronischen Gesundheitsakten für die Patient*innen-nahe Forschung sind und dass vor allem in Deutschland mehr getan werden muss, um schneller zu einer besseren Versorgung zu kommen“.