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Interviewpartner

Professor Andreas Diefenbach, Sprecher des Berliner Zentrums für die Biologie der Gesundheit, Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Herzlich willkommen zum BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“, dem Podcast aus dem Berlin Institute of Health in der Charité, dem BIH. Wir beantworten in diesem Podcast Fragen zur Gesundheit und berichten gleichzeitig über Aktuelles aus der Gesundheitsforschung. Mein Name ist Stefanie Seltmann.

Heute bin ich zu Gast bei Professor Andreas Diefenbach. Er ist der Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie und hat gerade das Berliner Zentrum für die Biologie der Gesundheit mitgegründet. Ziel dieses Zentrums ist es, die Mechanismen der Gesundheit zu verstehen, um Menschen möglichst lange gesund zu erhalten. Ein interessantes Unterfangen für eine Einrichtung wie die Charité, die sich eigentlich der Erforschung und Behandlung von Krankheiten verschrieben hat. Guten Tag, Herr Prof. Diefenbach.

Andreas Diefenbach: Schönen guten Tag.

Seltmann: Herr Diefenbach, ich kann es gar nicht so recht glauben, dass man schon soo viel über soo viele Krankheiten weiß, aber offenbar noch sehr wenig über die Gesundheit. Stimmt das?

Diefenbach: Ja, ich denke, das ist sehr akkurat. Wir kommen historisch von einem Verständnis der Medizin, dass Medizin eigentlich erst dann einsetzt, wenn der Mensch krank zum Arzt kommt. Und krank heißt ja mit Symptomen. Und für viele Erkrankungen ist das ein Stadium, dem viele andere Stadien vorhergehen, die wir eigentlich nicht gut kennen und nicht gut einschätzen können. Und ich glaube, das ist in der Tat etwas, wo wir uns als Gesellschaft überlegen müssen, ist das etwas, was wir weiter so tun wollen, da natürlich symptomatische Erkrankung auch heißt, dass es oft schon Veränderungen gibt, die ich gar nicht mehr zurückdrehen kann und wo ich gar nicht mehr wirklich zu dem vorausgehenden Stadium der Gesundheit zurückkomme. Und darüber, glaube ich, müssen wir uns noch mal ganz grundlegend Gedanken machen.

Seltmann: Es gibt eine Definition von Gesundheit von der Weltgesundheitsorganisation, sie beschreibt Gesundheit als einen Zustand des umfassenden körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Kann man diesen Zustand biologisch beschreiben?

Diefenbach: Ja, Sie sehen schon an der Definition, dass es ja eher so ein bisschen eine prosaische ist, die sich so ein bisschen drum herumdrückt, genau zu sagen, was Gesundheit eigentlich ist. Also Wohlbefinden oder „well being“ im angelsächsischen Sprachgebrauch ist ja ein Begriff, der wenig Konkretheit, enthält. Wir verstehen heute: dass Gesundheit sicherlich nicht nur die Abwesenheit von Krankheit ist. Die wichtige Aussage ist, dass Gesundheit ein aktiver Prozess ist, der sich mit kontinuierlichen Veränderungen in unseren Zellen, die teilweise etwas mit der Alterung von Zellen zu tun haben, aber eben auch in Auseinandersetzung mit unserer Umwelt immer wieder behaupten muss. Das heißt, es ist nicht so, dass Gesundheit ein Grundzustand eines Organismus ist, sondern auch das schon letzten Endes aktiven Prozessen mit ihren eigenen Regeln unterliegt. Und diese Prozesse sind eben molekular gesehen und mechanistisch gesehen andere als die, die Krankheiten erzeugen. Und das ist etwas, mit dem wir uns nur bisher, denke ich, peripher auseinandergesetzt haben.

Seltmann: International wird die Gesundheit auch beschrieben mit den Hallmarks of Health, den Kennzeichen der Gesundheit. Das sind aktive molekulare und zelluläre Mechanismen. Kann man das erklären?

Diefenbach: Ja, das ist relativ anschaulich zu erklären. Hallmarks of Health beschreibt ja, was wir benötigen, um Gesundheit zu erhalten. Das sind halt die großen Dinge, die ein Organismus leisten können muss, um letzten Endes in einer Umwelt überlebensfähig zu sein. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir intakte Grenzflächen haben müssen. Also wir haben eine Haut oder eine Schleimhautoberfläche, die es uns ermöglicht, uns erst einmal gegenüber der Umwelt zu einem gewissen Maße abzugrenzen. Wir haben Mechanismen, die zum Beispiel mit Alterungsprozessen des Organismus umgehen. In unserem krankheitszentrierten Bild scheint es ja immer so, dass Mutationen eigentlich nur auftreten, wenn man krank wird. Aber in Wirklichkeit ist es so, dass Mutationen täglich, stündlich, minütlich auftreten. Aber wir haben eben Mechanismen in unserem Körper, die diese Mutationen reparieren können zu einem gewissen Grad. Genauso haben wir so eine Art Abfallsystem der Zelle, das dafür sorgt, dass die Abfallprodukte auch aus der Zelle rausgeschleust werden und vielleicht auch wieder teilweise recycelt werden. Also all diese Mechanismen führen dazu, dass wir gesund sind, was man daran sieht, dass, wenn wir diese Mechanismen stören, dann führt das zu Krankheiten.

Seltmann: Eigentlich erforschen die Mediziner Krankheiten. Die sind in der Regel definiert als Störung der normalen Vorgänge in Zellen. Gesundheit wäre demnach der normale Zustand ohne Störung oder Behebung der Störung rechtzeitig?

Diefenbach: Ich würde so sagen: Wir brauchen dauernd aktive Mechanismen, die uns gesund erhalten. Also zum Beispiel brauchen wir eine gewisse Barrierefunktion von Epithelzellen, in unseren Grenzschichten zur Umwelt., Eine berühmte Erkrankung ist die zystische Fibrose oder Mukoviszidose, wo quasi ein Kanal im Epithel ausgeschaltet ist, genetisch. Und dazu kommt es dann zu einem wenig gut ausgebildeten Schleim in diesen Organen. Das führt dazu, dass diese Organe werden anfällig gegenüber Bakterien, die sich dort ansiedeln können, was sie normalerweise eben nicht können. Und das ergibt dann ein ganz schweres Krankheitsbild, das für viele Betroffene immer noch entweder schwer zu behandeln ist oder auch zum Tode führt. Das ist ein aktiver Mechanismus, der uns gesund erhält. Also dieser Kanal ermöglicht es, dass der Schleim, so ausgeformt wird, dass das Epithel seine gesunde Funktion ausüben kann. Also ja, ich glaube, Gesundheit ist mehr als nicht krank zu sein, sondern es ist gleichzeitig auch ein Funktionieren all dieser Mechanismen, die wir benötigen, um unsere Grenzflächen zum Beispiel gegenüber der Umwelt, aber eben auch viele andere Systeme so laufen zu lassen, dass sie ihre Funktion unbeschädigt erfüllen können. Und ich glaube, das ist der Paradigmenwechsel hier: dass wir erkennen, dass auf der einen Seite es natürlich Krankheitsmechanismen gibt – viele davon verstehen wir leidlich gut heutzutage –, aber dass wir auch Mechanismen haben, die teilweise unabhängig sind und die dafür sorgen, dass wir uns an unsere Umwelt und an die täglichen Gegebenheiten, dass wir eine circadiane Rhythmik haben, mal ist es hell, mal dunkel, mal schlafen wir, mal schlafen wir nicht, all das ist ja mit extremen Veränderungen in unserem Stoffwechsel zum Beispiel verbunden ... Und nur, wenn das vernünftig funktioniert, sind wir gesund.

Seltmann: Gibt es überhaupt einen einzigen normalen Zustand? Der unterscheidet sich doch vermutlich von Zelle zu Zelle und auch von Mensch zu Mensch.

Diefenbach: Ja, das ist richtig. Also ich denke, alle diese Mechanismen, die man als Hallmarks of Health bezeichnen möchte, sind individuell ausgeprägt. Aber die Mechanismen per se sind natürlich extrem konserviert. Einige dieser Mechanismen finden wir selbst in einzelligen Organismen wie Bakterien oder Hefen. Und ich glaube, das ist eine ganz, ganz wichtige Frage, die Sie da stellen, weil wir schon lange Phänomene kennen, die in der evolutionären Ökologie gerne mit dem Begriff der Krankheitstoleranz beschrieben werden. Alle haben wir das bei Coronavirus-Zeiten erlebt, einige Menschen werden halt schwer krank von dieser Erkrankung, andere nicht. Das hat teilweise natürlich was mit der Virus-Load und mit Virustypen zu tun gehabt, aber eben auch damit, dass die individuelle Toleranz eines Organismus gegenüber Pathogenen sehr unterschiedlich ist, unabhängig von der Power des Immunsystems, solche Erreger zu eliminieren. Und das war einer der frühen Befunde, der eigentlich dieses Feld zur Erforschung von Hallmarks of Health inspiriert hat, weil diese Befunde klar gesagt haben: Es muss Mechanismen geben, wir nennen das die Resilienz gegenüber Erregern oder anderen Noxen individuell steuert. Und da das möglich ist, gehen wir eben auch davon aus, dass es möglich sein wird, diese Netzwerke der Gesundheitserhaltung therapeutisch zu boostern, um Menschen, resilienter gegenüber Erkrankungen zu machen.

Seltmann: Also diese unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber äußeren Störungen, manche Menschen kommen mit ganz wenig Schlaf aus, manche werden schon krank, wenn sie mal nur regelmäßig sechs Stunden bekommen. Es gibt Befunde, dass manche Menschen unter furchtbaren Rückenschmerzen leiden, obwohl sie gar nichts im Röntgenbild haben. Und andere haben eindeutig Bandscheiben verrutscht und merken gar nichts. Also das scheint es auf allen möglichen Gebieten zu geben?

Diefenbach: Absolut. Der Begriff der Resilienz ist etwas, was für die biologische Forschung noch etwas ist, was, glaube ich, ein sehr Hot Topic ist. Das kommt aber eigentlich aus der Psychologie als Begriff, ist dort lange schon etabliert und beschreibt die individuell unterschiedliche Verarbeitung vor allen Dingen von traumatischen Situationen. Individuen erfahren dasselbe Trauma, aber der Umgang damit und die Verarbeitung dieses Traumas ist extrem individuell unterschiedlich. Das ist natürlich in der Psychologie molekular schwer aufzuklären, aber in den biologischen Wissenschaften verstehen wir jetzt mehr und mehr, dass dahinter natürlich gewisse Pfade liegen. Und vor allen Dingen metabolische Leistungen von Geweben, die dazu führen, dass ein Individuum wenig anfällig ist zur Koexistenz mit gewissen Bakterien oder Viren, damit dann viel besser zurechtkommt als ein Individuum, wo die metabolische Leistung des Gewebes eben nicht so ausgeprägt oder anders ausgeprägt ist und vielleicht anderen Noxen gut widerstehen kann, aber gerade dieser, mit der der Organismus dann konfrontiert wird, nicht.

Seltmann: Wie wollen Sie denn nun die Erforschung von Gesundheit angehen? Welche Technologien, welche Disziplinen benötigt man dafür? Welche Organismen zieht man dafür heran?

Diefenbach: Ich denke, dass wir uns damit beschäftigen können und wollen jetzt, hat auch etwas damit zu tun, dass die Technologien gerade jetzt kreiert worden sind, um solche Dinge wirklich auf einigermaßen zufriedenstellendem Niveau zu studieren. Dass wir einmal Technologien zur Verfügung haben, die die Umwelt an und für sich erfassen können. Auf der anderen Seite haben wir gelernt, dass eben genau diese Mechanismen der Interaktion zwischen Umwelt und Wirt eine ist, die letzten Endes auf der Interaktion von Zellen in Geweben zentral determiniert werden. Ich nenne mal ein Beispiel. Vor vielen Jahren sind wir davon ausgegangen, dass im Prinzip so ein Gewebe hauptsächlich aus epithelialen und mesenchymalen Zellen besteht, vielleicht noch Gefäßen. Und heute wissen wir, dass das natürlich stimmt, aber dass es natürlich lokal dann doch wesentlich komplexer ist. Und wir wissen vor allen Dingen, dass in den ganzen Geweben heute neuronale Komponenten mit hinzukommen und Komponenten des Immunsystems. Es gibt eigentlich kein Organ inklusive des Herzmuskels, das keine Immunzellen enthält. Und wir lernen in den letzten Jahren vermehrt, dass gerade die Immunzellen bei diesen Kommunikationsprozessen in Geweben eine ganz zentrale Rolle spielen. Das können wir heute mit räumlich aufgelösten Sequenziertechnologien angehen, wo wir im Prinzip genau sehen können, wo kommt das Signal her, wie wird das an eine andere Zelle weitergegeben und in welchen Nischen oder in welchen Mikroumgebungen sitzen denn jetzt diese Zellen und wie sprechen die miteinander. Das ist, glaube ich, wirklich ein ungeheurer Fortschritt, der es uns ermöglichen wird, in den nächsten Jahren diese Prozesse wirklich sauber zu kartieren, die dahinterliegenden Pfade zu verstehen und dann eben auch anwendbar zu machen zum Beispiel für präventive oder therapeutische Maßnahmen.

Seltmann: Aber das würden Sie an isolierten Zellen machen oder an isolierten Geweben? Und woher stammen diese Gewebe? Haben Sie da Versuchspersonen, die von sich sagen, sie sind gesund, oder sind das Mäuse, die auf besondere Art und Weise gehalten werden?

Diefenbach: Einmal werden wir uns sicherlich Modellsysteme anschauen müssen. Sprich, das kann von Fruchtfliegen über Würmer bis hin zu Mäusen gehen. Natürlich wollen wir das und werden wir das in humanen Systemen validieren. Und dort gibt es vor allen Dingen die Möglichkeit, Erkrankungen in sogenannten At-Risk-Kohorten anzugucken. Ich nenne mal ein Beispiel: Es gibt Menschen, die haben Mutationen in dem sogenannten APC-Gen. Das ist ein Gen, was für die Zellzykluskontrolle wichtig ist. Und wenn dieses Gen mutiert ist, dann entwickeln diese Kinder meistens schon oder Jugendlichen eigentlich zu 100 Prozent Dickdarmkarzinome. Also das ist eine erbliche Form des Dickdarmkarzinoms. Diese Menschen werden natürlich, weil wir das wissen, quasi konsequent biopsiert. Die kriegen eine Koloskopie jedes Jahr. Und aus diesen Patienten kann man dann durchaus auch in einer kinetischen Abfolge humane Gewebe analysieren. Ich glaube, davon müssen wir wesentlich mehr Gebrauch machen. Das gibt es für viele andere Erkrankungen auch. Für zum Beispiel rheumatologische Erkrankungen, wo man Autoantikörper wahrnimmt, also Antikörper, die sich gegen uns wenden und wo der Mensch noch nicht krank ist. Und auch dort wird dann immer wieder in Abfolge untersucht, stellen sich denn jetzt Krankheitssymptome ein? Und ich glaube, aus solchen Analysen können wir dann extrem viel für die Entstehung von Erkrankungen lernen und eben auch genau diesen Umschlag von einem Scheitern oder Erschöpfen oder Erlahmen von homöostatischen Pathways, also solchen Hallmarks of Health, die wir diskutiert haben, hin zu krankheitsfördernden Pathways, die dann letzten Endes zu symptomatischen Erkrankungen führen. Ich glaube, wenn uns das gelingt, dann haben wir natürlich die Möglichkeit, Biomarker für Erkrankungen zu entwickeln, die anzeigen, wenn ein solcher Hallmark of Health beginnt, geschwächt und dann vielleicht auch letzten Endes ganz abgeschaltet zu werden. Dann hätten wir die Möglichkeit, natürlich an Erkrankungen viel, viel früher heranzukommen, und hätten das alte Versprechen der Medizin, dass wir eine lange Spanne eines gesunden Lebens haben wollen und nicht eine lange Spanne eines Lebens, das halt doch mit vielen Einschränkungen versehen ist, ... diesem Versprechen vielleicht näherzukommen.

Seltmann: Also Sie suchen nach dem Übergang von Gesundheit zu Krankheit, dem Kipppunkt sozusagen?

Diefenbach: Genau, der Kipppunkt zwischen den Erkrankungen. Wir denken, dass gerade Erkrankungen, die eine lange Entwicklung haben, eben oft Mechanismen vorhergehen, die dem gegensteuern wollen. Ich nenne mal noch ein anderes Beispiel. Fettleibigkeit, Obesity, kommt ja dadurch zustande, dass wir einfach zu viel rumsitzen und dann vielleicht auch nicht uns wirklich so ernähren, wie wir das sollten, also zu viel Fett, meistens zu viel gereinigte oder nicht komplexe Kohlenhydrate zu uns nehmen. Und was man dann sieht, ist: Man wird ja auch nicht sofort fett. Am Anfang fängt der Organismus an, da gegenzuregulieren. Man versucht dann irgendwie entweder Fettabsorption im Darm zu reduzieren oder die Fette dann schneller abfließen zu lassen in andere Pathways, die dann nicht unbedingt gleich zu einer Entzündung und zu einer Fettleibigkeit führen. Und erst in einem weiteren Schritt, wenn diese Mechanismen sich erschöpfen, dann passiert das. Aber diese Mechanismen, das sind ja molekulare Mechanismen, die kann ich messen. Ich kann also sehen, dass zum Beispiel in der Frühphase der Erkrankung Fettsäuretransporter zum Beispiel im Darmepithel versucht werden abzuschalten. Und damit weiß ich aber eigentlich schon, dass hier ein Prozess eingeleitet worden ist, der gegensteuern will. Und ich denke, das ist ein Zeichen, dass hier schon eine frühe Phase der Erkrankung eingetreten ist. Erst wenn das dann erschöpft ist und nicht mehr vernünftig stattfinden kann, dann kommen all die nachgeordneten Prozesse. Sodass wir in der Tat, glaube ich, durch das Erkennen dieser frühen Phänomene von Krankheiten eingreifen können und natürlich auch die Hoffnung haben, dass wir diese Pathways vielleicht nutzen können, um Krankheiten aktiv und molekular einer Vorbeugung oder Prävention unterziehen zu können.

Seltmann: Aber gerade bei dem Beispiel, das Sie jetzt genannt haben, Adipositas kommt dadurch, dass man immer so viel rumsitzt und vielleicht sich falsch ernährt, da könnte man doch auch überlegen, dass man dann eingreift, indem man sagt: So, und jetzt zweimal pro Woche wird Sport getrieben und die Ernährung wird umgestellt. Und dass man das vielleicht auch molekular verfolgt und schaut, was genau stellt sich da dann wieder um?

Diefenbach: Absolut. Ich meine, was wir heute unter Prävention verstehen, ist ja in den meisten Teilen eine Vermeidung, also aufhören zu rauchen, weniger fettig essen, ohne dass wir eigentlich ein klares Verständnis dafür haben. Gut beim Rauchen ist einfach, das ist eine Noxe, die sollte man einfach weglassen. Aber bei der Ernährung geht es schon los. Es gibt ja auch viele Menschen, die trotz Ernährungsumstellung dann nicht so wirklich gut gegensteuern können, die trotzdem fettleibig werden und trotzdem metabolische Erkrankungen entwickeln. Also da ist es schon nicht so ganz einfach. Wir hier am Institut haben eine Arbeitsgruppe, die sich sehr, sehr aktiv mit der Frage des Fastens beschäftigt, also was passiert eigentlich, wenn wir Kalorien für eine gewisse Zeit ganz wegnehmen. Das ist total spannend, denn ich glaube, es ist nicht so gut verstanden, wie muss die Ernährung genau komponiert sein, um gesund zu sein. Aber was sehr, sehr gut dokumentiert ist in allen Systemen, ist, dass eine Kalorienverminderung, einen unheimlich benefiziellen Effekt hat. Und das kann man studieren. Interessanterweise sind eines der Hauptdinge, die da reguliert sind, Immunzellen. Also die Zellen, die Entzündungen erzeugen und die dann auch dazu führen, dass solche metabolischen Erkrankungen weiter befeuert werden durch Entzündungen, auch Entzündungen in den Gefäßen, die werden dadurch vermindert. Und das Zweite, was in sehr basalen Mechanismen extrem gut dokumentiert, ist, dass Nahrungsrestriktion und Kalorienrestriktion die Langlebigkeit fördern. Dafür gibt es sehr, sehr harte Daten. Und Sie haben völlig recht, das Studieren von solchen Interventionen, Lifestyle-Intervention, und das Verstehen, was das molekular bedingt, könnte uns in der Tat auch dazu führen. Ich denke, es sind zwei Prozesse, die da eng miteinander verwoben sind: einmal diese Gegenregulation, aber eben auch wie können unsere Interventionen, welche Veränderungen nehmen die vor, und kann ich die vielleicht nutzen, um Krankheiten zu verhindern oder um den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen.

Seltmann: Jetzt ist ja die Erforschung der Gesundheit eine interdisziplinäre Angelegenheit. Also es sind ja daran möglicherweise Herzmediziner und Neurologen und Hautexperten beteiligt. Es ist aber doch bestimmt kein Zufall, dass ausgerechnet ein Infektionsmediziner und Immunologe das Projekt leitet. Welche Rolle spielen denn Infektionen und das Immunsystem beim Gesundbleiben oder beim Gesundwerden?

Diefenbach: Da gibt es viele Bezüge zu dieser Frage. Einmal ist die Immunologie so eine Art Querschnittsfach. Das Immunsystem gibt es in jedem Organsystem, vom Herzen bis hin zum Gehirn. Also daher ist man als Immunologe so ein bisschen mit allen Organsystemen verbunden. Das zweite wichtige Ding ist: eines der Phänomene die Immunologen schon seit vielen, vielen Jahren studieren, ist das, was wir Entzündung nennen. Eine Entzündung ist ja bei akuten Erkrankungen etwas Gutes. Also wenn wir uns einen Dorn in die Haut rammen, dann kommen die Entzündungszellen, um die Bakterien wegzuschaffen und letzten Endes aber dann wieder den Ausgangszustand herzustellen. Wir reden ja hier von chronischen Entzündungen, also die lange vor sich hin schwelen und über die lange Spanne zu Organschäden führen. Und das ist natürlich etwas, was Immunologen sehr interessiert. Wir wissen, dass alle diese Erkrankungen, die wir so als Zivilisationserkrankungen bezeichnen, die heute in den industrialisierten Ländern, aber zunehmend auch im globalen Süden wirklich zu den führenden Erkrankungen in der Krankheitslast gehören, das sind alles Erkrankungen, die das Immunsystem beteiligen. Also ob wir jetzt von Allergien sprechen, ob wir von den inflammatorischen Darmerkrankungen sprechen, Multiple Sklerose. Selbst degenerative Erkrankungen wie Alzheimer werden mit einer Fehlfunktion von Fresszellen, von Makrophagen im Gehirn in Verbindung gebracht. Sodass also das Immunsystem dort überall hineinspielt. Und vielleicht der letzte Link für mich war natürlich der über das Mikrobiom als eine wichtige Stellschraube, eine wichtige Determinante von Gesundheit und auch Anpassung des Organismus an solche biotischen Faktoren, die in und um uns herum leben. Und da ist man natürlich als Mikrobiologe auch gefragt. Und unsere Arbeiten am Mikrobiom haben letzten Endes diese ganzen Fragestellungen natürlich auch noch mal mit stimuliert.

Seltmann: In der Pressemitteilung werden Sie zitiert, dass wir eine neue Konzeption von Medizin benötigen. Was meinen Sie damit? Warum brauchen wir ein neues Konzept?

Diefenbach: Das bringt uns zurück ein bisschen an den Anfang des Gesprächs. Es ist in der Tat so, dass wir immer noch einem Medizinkonzept anhängen, das letzten Endes wartet, bis wir bzw. der Patient Krankheitszeichen und Symptome hat. Das sind alles bei chronischen Erkrankungen späte Stadien einer Erkrankung. Und wir müssen, wenn wir Erkrankungen früher erkennen wollen und damit auch verhindern wollen, dass diese Erkrankungen dann Restschäden hinterlassen, müssen wir einfach früher an Erkrankungen rankommen. Und deshalb haben wir auch in unserem Forschungsgebäude einen Kommunikationsarm mitgedacht, weil das hat natürlich Implikationen für uns als Menschen in der Gesellschaft. Das heißt, wir gehen nicht erst zum Arzt, wenn wir ein Brennen irgendwo spüren, sondern wahrscheinlich brauchen wir eine fortlaufende Analyse unseres Zustandes, um schon viel früher da ranzukommen. Es gibt einzelne Dinge, wo das schon passiert. Bei der zystischen Fibrose zum Beispiel, dieser Kanal, der ist ja nicht ganz ausgeschaltet, sondern der ist nur in seiner Effizienz stark eingeschränkt, und da gibt es Medikamente inzwischen, die diesen Kanal stabilisieren. Und man kann in der Tat dann damit die Schleimproduktion wieder zumindest weitestgehend normalisieren. Das zeigt, molekular wird das möglich werden. Es wird möglich werden, Zellstoffwechselvorgänge so zu beeinflussen, dass es eine erhöhte Widerstandsfähigkeit gegenüber Erkrankungen geben wird. Aber das heißt natürlich, wir handeln auch therapeutisch im Vorlauf einer Erkrankung. Und ich glaube, darüber müssen wir uns klar verständigen als Gesellschaft: Wollen wir das? Wann wollen wir das? Brauchen wir vielleicht noch andere Risikoanalysen? Weil das auch heißen würde, dass wir unser Verhalten, also das normative Verhalten umstellen müssen. Das wäre, glaube ich, schon eine große Veränderung. Aber es wäre eine, die das Potenzial hätte, in der Tat dann nochmal die Konzeption von Medizin zu beeinflussen und wahrscheinlich auch für den Einzelnen dann doch ein längeres gesundes Leben ermöglichen würde.

Seltmann: Das würde dann vielleicht so aussehen, dass jeder alle halbe Jahr zum Checkup geht, wie man es ja heute vielleicht schon beim Zahnarzt kennt? Da geht man ja auch alle halbe Jahr, und wenn man nur ein ganz kleines Löchlein hat, dann flickt der Zahnarzt das, und das verhindert, dass der Zahn ganz raus muss. Und so würde man das vielleicht umstellen? Für wie wahrscheinlich oder für wie möglich halten Sie denn eine solche grundlegende Umstellung der Medizin von Krankheitsbekämpfung zu Gesunderhaltung?

Diefenbach: Wie gesagt, ich habe keine echte Prognose. Ich denke, das ist eine wirklich gesamtgesellschaftliche Diskussion, die wir führen müssen im öffentlichen und im politischen Raum. Ich könnte mir vorstellen, wenn man die demografische Entwicklung anguckt, dass ein Weiterlaufen des Systems, so wie es ist, uns sehr bald in Probleme führen wird, weil wir gar nicht die Leute dann unter Umständen haben, das Personal haben, Ärzte, Krankenpflegepersonal, das sich letzten Endes mit all den Erkrankungen beschäftigen kann. Also ich könnte mir vorstellen, dass es dort durchaus auch einen gewissen politischen Druck im System geben wird, unseren Zugang zu Erkrankung zu verändern. Aber ich glaube, das wäre der richtige Weg. Ich denke, das wird noch eine Weile dahin sein, denn wir haben ja noch gar keinen Katalog, was wollen wir denn da eigentlich untersuchen und welche Biomarker wollen wir denn uns wirklich anschauen, die uns dann eine Aussage über entstehende Erkrankungen geben. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Und dann wäre das sicherlich ein vernünftiger und eigentlich auch rationaler Zugang zu Erkrankungen.

Seltmann: Gesund zu bleiben, erfordert ja aber auch vermutlich den persönlichen Einsatz eines jeden Einzelnen. Das kann ja nicht allein ein Arzt von außen richten. Denken Sie da auch vielleicht an Bildungsprogramme, an Erziehung in Schulen? Sie haben von Öffentlichkeitsarbeit gesprochen.

Diefenbach: Ja, in dem Gebäude, dem Berliner Zentrum für die Biologie der Gesundheit, ist das mit angedacht worden. Wir wollen eine ständige Ausstellung haben, die erst einmal in dieses Problem einführt. Wir wollen Räume schaffen, wo wir auch mit der Gesellschaft diskutieren können. Ich glaube, einmal kann man natürlich aktiv etwas für seine Gesundheit tun, also Bewegung, gewisse Noxen zu meiden, das bleibt ja weiterhin eine Empfehlung. Und das heißt auch nicht, wenn wir jetzt verstehen, was uns krank macht, und wir können das vielleicht medikamentös angehen, dass man dann alle diese basalen Regeln über Bord werfen sollte. Aber ich denke, es würde auch ein Ort sein, solche Konzepte mit Menschen in unserer Gesellschaft zu diskutieren und ein Gefühl dafür zu bekommen und auch ein Verständnis dafür zu bekommen, ist das eigentlich etwas, was eine gewisse Akzeptanz erlangen könnte, und wo sind da die Grenzen? Um das nicht so als Wissenschaft im Elfenbeinturm enden zu lassen, sondern wo wir schon frühzeitig in den Dialog treten wollen. Und wir wären sehr daran interessiert, zu hören, was ist eigentlich der Einzelne bereit, dafür zu tun, und wäre das ein Konzept, wo die Menschen sagen würden: Ja, wir wollen das. Und durch das Versprechen, dass wir früher Erkrankungen abfangen können, dass wir dadurch es auf uns aufnehmen, jedes halbe Jahr zum Arzt zu gehen und eine Palette von Blutuntersuchungen über uns ergehen zu lassen. Aber ich glaube, das ist genau das, was dort begleitend auch stattfinden soll.

Seltmann: Das Motto des BIH lautet „Aus Forschung wird Gesundheit“. Werden wir das dann eines Tages umschreiben müssen vielleicht in „Durch Forschung bleibt Gesundheit“?

Diefenbach: Ja, ich glaube, das ist eigentlich das akkuratere Motto sowieso, denn wir wollen ja Gesundheit erhalten und nicht nur spät in der Spirale eine Therapie anbieten, die dann eben nicht gleich mit Gesundheit ist. Ich glaube, das Medizinversprechen von Gesundheit wird ja immer nur partiell eingelöst. Und ich glaube, das wäre in der Tat eine wirklich tolle Zukunftsperspektive, wenn man das Motto so verändern könnte.

Seltmann: Dann wünsche ich Ihnen alles Gute für die zukünftige Arbeit. Und ich bedanke mich ganz herzlich für das interessante Gespräch.

Diefenbach: Vielen Dank.

Seltmann: Und das war der BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health in der Charité, dem BIH. Professor Andreas Diefenbach erklärte, wie man die Gesundheit erforscht und bestenfalls erhält. Sie können das Interview auch noch einmal nachlesen auf www.bihealth.org. Falls auch Sie eine Frage zur Gesundheit oder zur Gesundheitsforschung haben, richten Sie sie gerne an podcast@bih-charite.de. Tschüss und bis zum nächsten Mal, sagt Stefanie Seltmann.